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Nah am Menschen, überaus weltlich

Wallfahrt auf polnisch: Im August pilgern Tausende zur Schwarzen Madonna nach Czestochowa. Rührende Kirchenlieder vermischen sich dann mit den Protestliedern zur E-Gitarre. Ein abgefahrener Ferientrip  ■ Von Henk Raijer

Bruder Engel schwitzt. Unter dem Strohhut, auf den blassen Wangen, ziehen die Tropfen ihre feuchte Spur, Disteln kleben an der vormals weißen Kutte, die knochigen Füße in den Plastiklatschen sind schwarz vor Dreck – Bruder Engel schwitzt höllisch. Aber der junge Pauliner ist im siebten Himmel, trotz drückender Hitze tanzt er ausgelassen im Kreise junger Mädchen über die verdörrte Wiese der Jasna Góra, stimmt mit ihnen ihre Lieder an. „Auch wenn es regnet, heißt das nicht, daß keine Sonne scheint“ – aus Tausenden Kehlen schmettert der Refrain nach der Melodie von „Living next door to Alice“ gegen die Klostergemäuer, als gelte es, durch Fürbitte der Schwarzen Madonna das dräuende Unwetter in letzter Minute zu bändigen. Bruder Engel liebt die Tage vor dem 15. August.

„Die Ankunft der Pilger ist für uns im Kloster eine echte Abwechslung“, erklärt der Novize, nach Luft schnappend, die Begeisterung, mit der in Czestochowa am Tag vor Mariä Himmelfahrt die Jugend Polens begrüßt wird. Immer wieder machen Lautsprecher dem Geklimper der Gitarren Konkurrenz. Zusammen mit den etwa 50 Teilnehmern der Gruppe Nummer „14/gelb“ aus Warschau kniet Bruder Engel vor der mit Blumen und Kerzen geschmückten Maria- Statue. „So viele Kilometer“, verkündet von der Empore ein wohlgenährter Pauliner, „in dieser Hitze. All das, um die Mutter zu sehen. Ich küsse eure Füße.“

Hunderttausende vorwiegend junger Pilger aus allen Landesteilen sind der Nummer „14/gelb“ schon durch die „Allee der Allerheiligsten Jungfrau Maria“ vorangegangen – die aus Warschau wanderten neun Tage, die aus dem masurischen Olsztyn sogar zwei Wochen. Begrüßt werden sie von den Czestochower Bürgern – die sich mit Papstplaketten, Postkarten, Heiligenbildchen oder auch nur mit Würstchen und Mineralwasser ein Zubrot verdienen.

Waren es vor der Wende in Polen noch Millionen, die in der Wallfahrt nach Czestochowa die einzig legale Möglichkeit sahen, ihrem Protest gegen das 1981 verhängte Kriegssrecht Ausdruck zu verleihen, haben sich inzwischen die Reihen erheblich gelichtet. Zwar pilgern nach wie vor alljährlich Tausende Gläubige in die Kleinstadt an der Warthe, um das Bildnis der Schwarzen Madonna zu sehen. Zwar läßt auch heute noch so mancher Unmengen sauer verdienter Zlotys in den klostereigenen Devotionalienläden. Doch die Mehrzahl derer, die heutzutage die Mühsal der Wallfahrt auf sich nehmen, ist unter 20 – und ihre Motivation weitaus weltlicher, als es dem polnischen Primas Glemp lieb sein dürfte.

„Gloswie Ewangelie Milosci i Zycia“ heißt es auf dem Transparent unter dem mächtigen Klosterturm, „Verkündet das Evangelium der Liebe und des Lebens“. „Ist doch voll in Ordnung, oder“, bemerkt Agnieszka aus Plock. Die 16jährige, Feldblumen im Haar, ein bunter Wickelrock bis zu den Knöcheln, flüchtet sich vor dem plötzlichen Planschregen in den Schutz des Eingangsportals. Gegen solche Sprüche, auch wenn sie von konservativen Katholiken kämen, sei doch nichts einzuwenden, meint die Gymnasiastin. Die seien doch „ganz nah am Menschen, ja überaus weltlich“. Keinerlei Beachtung jedoch schenkt Agnieszka den Nippes-Ständen. Hier gibt es von Reproduktionen der Schwarzen Madonna über Papst-Wojtyla- Stecknadeln bis zum Video „Schöpfung der Welt“ für Taubstumme alles, was der fromme Katholik fürs Diesseits so braucht.

Nein, der Madonna wegen hätte sie sich nicht solche Blasen geholt, betont Agnieszka. Gläubig? Ja, irgendwie schon, aber keineswegs fromm wie die alten Frauen in Schwarz, die in diesem Moment, auf Knien dem Regen trotzend, das Ave Maria anstimmen.

Agnieszka und Tausende anderer Kids sind nach Czestochowa gepilgert, um auf dem improvisierten Campingplatz hinter dem Kloster ihr Woodstock zu erleben – sogar der Regen bestätigt die Analogie. Ohne Gnade wird das Gelände von Lautsprechern beschallt, aber die Jugendlichen in ihren Zelten lauschen nicht etwa Jimi Hendrix oder The Who, sondern der Übertragung einer der vielen Messen aus dem Bauch der Jasna Góra. „Ihr seid der Beweis, daß Polens Kirche lebt“, füttert der Zeremonienmeister drinnen in der Kapelle die Meute draußen auf dem nassen Platz. „Für mich bist du der Beweis, daß sich meine Wallfahrt gelohnt hat“, gesteht Agnieszka ihrem neuen Freund Piotr lachend ihre Verliebtheit. Der 18jährige, dessen triefendes T-Shirt die Aufschrift „Voodoo Lounge Tour – The Rolling Stones in Prague 95“ schmückt, hat gerade einen Fetzen Plastik erobert. Ein gemeinsames Zelt hätten sie leider nicht, „aber vielleicht läßt sich später bei Freunden was arrangieren“, gibt sich Piotr optimistisch.

Polens Kirche hat die Zeichen der Zeit durchaus erkannt. Zwar warnt der erzkonservative Kardinal Glemp bei jeder Gelegenheit vor dem Dämon Europa. Zwar wettert er auch an diesem Tag wieder gegen Pornographie, „Erotismus“ und Abtreibung – womit er vielen hier im Zentrum der Lebensschützer aus der Seele spricht. Aber obwohl es in Polen so was wie eine Kirche von unten nicht gibt, ist den meisten Klerikalen bewußt, daß die Jugend mit überkommenen, strengen Ritualen nicht zu gewinnen ist. Polen als Bollwerk gegen den Unglauben, der aus dem Westen kommt? Von diesem Bild mögen katholische Patrioten gerade an Feiertagen immer noch gerne träumen – mit der sie umgebenden Wirklichkeit hat das längst nichts mehr zu tun.

Agnieszka und ihre Freunde im Hippie-Look wissen mit Mühe und Not, was es mit den Wundertaten der Schwarzen Madonna von Czestochowa eigentlich auf sich hat. Sie soll nicht nur heilen, Lahme gehend und Blinde sehend machen – die Dame, vor der tagtäglich Tausende meist älterer Pilger in die Knie gehen, hat der Legende nach noch ganz andere Sachen bewirkt. Das allerdings ist schon eine Weile her. 1655 widerstand eine Mannschaft aus Mönchen, Adligen und Soldaten, verschanzt in den Gemäuern des Klosters, dem Ansturm der Schweden. 1770 wiederholte sich dieser heroische Verteidigungskampf der Polen gegen das Heer der Zarin Katharina II. Und schließlich das „Wunder an der Weichsel“: An Mariä Himmelfahrt 1920 schickten die polnischen Truppen die Rote Armee, nahe Warschau gerade vernichtend geschlagen, zurück nach Osten.

Für Agnieszka und Piotr wie für die Zehntausenden Kids auf der Wiese war nicht der Marienkult, sondern der Weg das Ziel: die Wallfahrt als Urlaubstrip, die Jasna Góra als Ferienlager. Seit der Kommunismus zerschlagen, die Markwirtschaft den betriebseigenen Ferienheimen den Garaus gemacht hat, können sich die meisten Eltern einen mehrwöchigen Urlaub mit den Kindern nicht mehr leisten. Da kommt der Sternmarsch nach Czestochowa gerade recht: Besorgte Mütter und Väter wähnen ihre Sprößlinge bei den wenigen Ordensbrüdern und Laien, die die Wanderer begleiten, in sicheren Händen. „Endlich mal ohne die ständige Aufsicht von Eltern und Lehrern“, seufzt Agnieszka, die inzwischen zusammen mit Piotr das Abendmahl bereitet: ein Stück Wurst, drei Tomaten, Weißbrot und Wasser. „Endlich mal weg vom Kasernenalltag“, ergänzt Jurek vor seiner feldgrünen Unterkunft gleich nebenan. Der 23jährige Gefreite aus Poznan läßt es allerdings auch in solch ungezwungener Umgebung nicht an Disziplin fehlen: Hingebungsvoll wienert er seine dreckigen Stiefel.

Der Regen ist weitergezogen, die Wiese dampft in der Abenddämmerung. Vor dem noblen Gästehaus des Klosters, am äußersten Ende des Zeltplatzes, hat sich das örtliche „Komitee zur Wiederwahl Lech Walesas“ postiert; ihre Mitglieder nutzen die Gunst der Stunde, denn am 5. November wird in Polen gewählt. Aber auch die Fans einer der Gegenkandidaten des amtierenden Präsidenten schlafen nicht: Mit Pamphleten werben sie für die bei aufrechten Katholiken zweifellos populärere Hanna Gronkiewicz-Waltz, die Präsidentin der Nationalbank.

Arm in Arm überqueren etwa 40 Novizinnen, junge Frauen mit artig hochgesteckten Haaren in blauer Kluft, das Terrain, singen „Schon heute morgen habe ich für meinen Herrn gebetet“. Unter den wohlwollenden Blicken von Soldaten und Hippies, die ungestört weiter essen, trinken und küssen, machen sie immer wieder Station: vor meterhohen Statuen, die die Geschichte der Jungfrau erzählen – von der Verkündung über die Unbefleckte Empfängnis bis hin zur Niederkunft in Bethlehem.

Eigentlich habe er ja Dienst, so Bruder Engel, in der Kapelle. Dort wollen am Vorabend der zentralen Freiluftmesse die Gläubigen noch einen schnellen Blick auf das Bildnis der Madonna werfen. Aber der junge Ordensmann, der im November seine Priesterweihe erhält, genießt die Atmosphäre hier draußen. Und den Kontrast: drüben die jungen Schwestern, wie sie singen: „Es gibt keinen anderen Herrn auf dieser Welt als den unsrigen“; und hier die Jugend Polens, Gleichaltrige zum Teil, die sich um eine improvisierte Bühne scharen, um zu den Klängen einer elektronisch verstärkten Akustik-Gitarre Protestlieder zu singen. „Morgen früh um elf“, da ist sich Bruder Engel ganz sicher, „treffen wir uns alle zur Messe, Regen oder kein Regen, gläubig oder ungläubig.“

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