: Grauzone NS-Staat
■ Uwe Werner berichtet über neue Forschungsergebnisse einer Studie
Im Oktober 1992 wurde eine Forschungsarbeit begonnen, die das Verhalten der Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus untersuchen sollte. Diese Arbeit ist heute praktisch fertiggestellt und soll – ungekürzt – veröffentlicht werden. Mit Hilfe aller erreichbaren Dokumente wurde eine Darstellung jener tatsächlichen Vorgänge ermöglicht, über die bisher in der Öffentlichkeit wie auch in der Anthroposophischen Gesellschaft Unklarheit herrschte.
Was heute nur noch bruchstückweise dokumentiert werden kann, ist die gegen den NS-Staat gerichtete Haltung der Mehrzahl der deutschen Anthroposophen, die – von Verfolgung bedroht – nach den Regeln der Konspiration verfuhr. Sicher ist aber, daß Juden versteckt und Behinderte in größerer Zahl gerettet wurden.
Kleine Teile der deutschen Archive sind in den vergangenen Jahren veröffentlicht worden. Doch gerade die Unvollständigkeit und Zusammenhanglosigkeit dieser Unterlagen führte zu Fehlschlüssen. So zum Beispiel die unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit, die man einem Sigmund Rascher widmete, der nichts mit den Vorgängen zu tun hatte, die sich damals zwischen Anthroposophen und Nazis abspielten.
Die Archivrecherchen zur vorliegenden Arbeit (in fünfzig öffentlichen und neun privaten Archiven wurde relevantes Material gefunden) haben sich vor allem in zwei bisher nicht erschlossenen Archiven als besonders aufschlußreich erwiesen. Erstens die Bestände des Goetheaneum, die über die Haltung des deutschen Landesvorstandes in der Zeit bis zum Verbot der Gesellschaft (November 1935) Auskunft geben. Zweitens Archivgut aus dem Reichssicherheitshauptamt, das aus Beständen der DDR stammt. Diese neuen Unterlagen ermöglichten die Aufdeckung der vermutlich einzigartigen Verhandlungsvorgänge zwischen einigen Anthroposophen und den Polizei- und SD-Spitzen im NS- Regime. Aus ihnen geht hervor, daß das Verbot der Gesellschaft schon im Juli 1934 für Himmler und Heydrich beschlossene Sache war.
Es ergibt sich heute folgendes Bild: Schon im Februar 1933 begann eine Kampagne gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie, die bis zum Juni 1933 verstärkt wurde. Verglichen mit der heutigen Diskussion, wurde sie mit umgekehrten Vorzeichen geführt. Heute – nicht zuletzt in der taz- Beilage vom 11./12. März – werden Anthroposophie und Rudolf Steiner Rassismus und rechte Tendenzen vorgeworfen. In den zwanziger Jahren und – verstärkt – 1933/34 war das Gegenteil der Fall: die Nazis, völkische Gruppierungen, die Ludendorff-Bewegung, allen voran Mathilde Ludendorff, der berüchtigte Gregor Schwartz-Bostunitsch überschütteten die Öffentlichkeit mit Presseartikeln, Broschüren und Vorträgen über die unvölkische Anthroposophie, die internationalen, pazifistischen, ja marxistischen Tendenzen der Anthroposophischen Gesellschaft, den Judenfreund Rudolf Steiner usw., kurz: die grundlegende Unvereinbarkeit des völkischen Rassegedankens mit den Anschauungen Rudolf Steiners.
Wo also liegen Steiners Anschauungen über die menschlichen Rassen, wenn sie von der Linken als „rechte“, von der Rechten als „linke“ gebrandmarkt werden? Vielleicht sollte darauf in ernsterer als nur polemischer Weise eingegangen werden. Eines ist jedenfalls eindeutig: Während der zwölf Jahre der NS-Herrschaft gab es keinen einzigen Nationalsozialisten, der etwas Akzeptables in der Geschichtsauffassung und Völkerkunde Rudolf Steiners fand. Selbst Alfred Baeumler, Referent im Amt Rosenberg, dessen Gutachten die wohl eingehendste Auseinandersetzung eines Nationalsozialisten mit Steinerschem Gedankengut darstellen, lehnte den Deutsch- und Geschichtsunterricht der Waldorfschulen strikt ab. Die Berichte des Sicherheitsdienstes der SS – von diesen gab es eine stattliche Anzahl – wimmeln von Feststellungen der Unvereinbarkeit der Anthroposophie mit dem NS-Rassegedanken. Dabei handelte es sich nicht um einen Mangel an Kenntnis: Sowohl Baeumler als auch die SD-Zentrale verfügten über sämtliche einschlägige anthroposophische Literatur zu dieser Frage.
Zweitens – um nur noch auf einen der vielen Ansätze einzugehen – ergibt die Untersuchung die Tatsache, daß sämtliche Einrichtungen, die aus der Anthroposophie hervorgegangen waren, wie zum Beispiel die Waldorfschulen, die biologisch-dynamisch arbeitenden Güter und Höfe, heilpädagogische Institute, Eurythmiegruppen usw. permanent wegen ihrer anthroposophischen Orientierung angegriffen, bedroht und – die meisten von ihnen – geschlossen wurden. Die dabei auftauchende Frage ist folgende: Wenn die Nazis so eindeutig gegen alles Anthroposophische eingestellt waren, warum wurden dann die Einrichtungen nicht auch im Zuge des Verbotes der Gesellschaft alle kurzerhand von den Nazis geschlossen? Aus dieser Tatsache zogen manche den heute als voreilig erscheinenden Schluß einer vermeintlichen Nähe des Nationalsozialismus zur Anthroposophie. So gab es z.B. einen ganzen Fächer von Schließungsdaten der Waldorfschulen zwischen April 1936 und Juli 1941, die Achim Leschinsky „verdächtig“ erschien. Diese Mutmaßungen werden durch diese Untersuchung nicht bestätigt. Das jahrelange Fortbestehen vieler anthroposophischer Einrichtungen war nicht eine Folge nationalsozialistischer Toleranz gegenüber der Anthroposophie. Der Verlauf war ein ganz anderer und kann heute durch die Ereignisse und die Haltung der beteiligten Personen einsichtig gemacht werden.
Während die Ereignisse, die zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland im November 1935 führten, ein typisches Beispiel für den Gleichschaltungsvorgang und die Unterdrückung andersgearteter Geistesrichtungen sind, begann nach diesem Verbot der Gesellschaft ein Kampf einzelner Vertreter anthroposophischer Einrichtungen um deren Weiterexistenz, der völlig „untypisch“ verlief.
Es stellte sich nämlich heraus, daß eine Reihe von Parteigrößen durch ihre Begegnungen mit Vertretern anthroposophischer Einrichtungen an diesen und ihren methodischen Resultaten – nicht aber an deren anthroposophischen Grundlagen Interesse gewann. Allen voran Rudolf Heß, der zwar ausdrücklich das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft befürwortete, gleichzeitig aber die Weiterarbeit der biologisch-dynamisch arbeitenden Landwirte von Himmler forderte. Ähnlich Alfred Leitgen, einer der beiden Privatsekretäre von Heß, Otto Ohlendorf vom SD-Amt, Alfred Baeumler im Amt Rosenberg, der Landwirtschaftsminister Richard Walther Darré und andere. Es handelte sich um eine Reihe von Nationalsozialisten, deren Einstellung etwa folgendermaßen zusammengefaßt werden kann: Sie sahen im Nationalsozialismus eine allgemeine Erneuerungsbewegung, die auf alle Lebensgebiete ausstrahlen sollte; im Nationalsozialismus fanden sich aber die konkreten Impulse für eine solche Ausgestaltung nicht. So meinten sie, überhaupt alles in ihren Augen irgendwie Brauchbare sich aneignen zu sollen. So wurde von diesen Vertretern des Nationalsozialismus der Erhalt beziehungsweise die Übernahme mancher Einrichtungen immer aber unter der Voraussetzung angestrebt, daß sich diese von ihren sogenannten weltanschaulichen Grundlagen – hier: der Anthroposophie – lösen. Diese Haltung, die im einzelnen natürlich differenziert auftrat, wurde von den genannten Nationalsozialisten gegen die eindeutig kompromißlose Haltung der Gestapo- und SD-Spitze, Himmler und Heydrich, gegen Bormann, gegen Rust und Mergenthaler vertreten. Diese Richtung hat sich im Machtkampf nicht durchgesetzt, aber zum Beispiel das Fortbestehen der Dresdner Rudolf-Steiner-Schule bis Juli 1941 zur Folge gehabt. Das in den Verhandlungen vorgesehene Statut einer staatlichen Versuchsschule wurde von den Unterrichtsbehörden nie ausgearbeitet. Der einzige in diesem Sinne „gelungene“ Vereinnahmungsversuch wurde von Himmler gemacht, der nach der Verhaftung des hervorragendsten öffentlichen Vertreters der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, Erhard Bartsch, mit diesem Verfahren ab Juni 1941 experimentierte.
Seitens der Anthroposophen handelte es sich bei diesen Verhandlungen und Aktionen nicht um ein abgestimmtes Vorgehen. Die anthroposophischen Unterhändler wußten, daß eine Trennung der Einrichtungen von ihren anthroposophischen Grundlagen zum Verlust ihrer eigentlichen Identität führen mußte. Die Gefahr der Vereinnahmung durch den NS wurde freilich nicht immer deutlich erkannt. Mit der Entscheidung, weder offenen Widerstand zu leisten noch die anthroposophischen Einrichtungen einfach selbst zu schließen, hatten sie sich in eine „Grauzone“ des Verhandelns mit den Machthabern eingelassen. Das erforderte Mut und barg Gefahren und Irrtümer in sich. Auf dieser Ebene erscheint die zu untersuchende Problematik heute zu liegen. Statt verallgemeinernder Urteile erfordert sie die Kenntnisnahme des Verhaltens der beteiligten Personen im einzelnen.
Ein erstaunliches Ergebnis dieser Untersuchung ist es, daß eine kleine Anzahl von Anthroposophen, es dürfte sich um nicht mehr als 20 gehandelt haben, große Teile des NS-Behördenapparates mit ihren Anträgen, Gutachten, Interventionen in Atem hielten und einen doch nicht unerheblichen Freiraum für ihre Arbeit erkämpften. In der Tat gelang es, zum Beispiel in der Dresdner Rudolf-Steiner- Schule bis zum Juni 1941 eine menschenfreundliche Pädagogik durchzuhalten, gelang es, in den heilpädagogischen Instituten bedrohte Kinder vor der „Euthanasie“ zu bewahren, gelang es, die biologisch-dynamische Landwirtschaft am Leben zu erhalten und anthroposophische Medizin und Pharmazie durch die Wirren des NS-Apparates zu manövrieren. So konnte 1945 die anthroposophische Arbeit sofort wieder aufgebaut werden. Das ist zum Teil das Verdienst jener, die sich aus heutiger Sicht auf fragwürdige Verhandlungen eingelassen haben.
Die Untersuchung wurde unter der Leitung von Christoph Lindenberg und in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-von-Hardenberg-Institut für Kulturwissenschaften, Heidelberg, durchgeführt.
Der Autor: geb. 1941, Anthroposoph, Dipl.-Volkswirt, Verwaltungs- und Lehrtätigkeit in Geographie und Geschichte, Verlagstätigkeit und sozialpädagogische Arbeit.
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