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Hier sind die Löwen

Zwischen Utopie und Notwendigkeit: Ein interdisziplinäres Symposion zum Thema „Wildnis“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt  ■ Von Andrea Kern

Er sei kein Mensch, sondern Dynamit, ließ Friedrich Nietzsche seine Zeitgenossen kurz vor Ausbruch seiner tödlichen Krankheit wissen, die ihn für die letzten elf Jahre ans Bett fesseln sollte. Nietzsches Selbstdiagnose war indes mehr als bloß eine Drohung; man kann in ihr auch die Chiffre einer Ahnung sehen, der Ahnung vom Ende der Zivilisation. Denn diese hat das Rennen gegen die Natur verloren, wenn aus Menschen Sprengkörper werden. Explosive Kräfte, die sich gegen die Übermacht kultureller Disziplinierungen zur Wehr setzen.

Die abendländische Zivilisation geht an sich selbst zugrunde, weil sie übertreibt. So hat die Frankfurter Schule die Geschichte der Moderne unter dem Titel der „Dialektik der Aufklärung“ auf eine griffige Formel gebracht. Der Schritt von der Natur zur Kultur sei nicht bloßer Fortschritt, sondern auch eine ambivalente Geschichte des Verfalls und des Verlusts. Das, was wir verloren haben, indem wir es maßlos beherrschten, ist jedoch nicht die Natur selbst als vielmehr ein angemessenes Verhältnis zu ihr. Das Unterdrückte rächt sich und kehrt wieder als Fratze oder eben als Dynamit. Die dialektische Figur, mit der Adorno und Horkheimer, den Zweiten Weltkrieg im Rücken, diesen zweischneidigen Prozeß der Zivilisation beschrieben, ist ziemlich genau ein halbes Jahrhundert alt, und doch ist sie aktueller denn je. Scheint doch die Natur heute gänzlich unter technischer und militärischer Kontrolle zu sein, und zugleich ist der Zusammenbruch des Ökosystems mindestens denkbar geworden.

Das Schreckbild einer „restlosen Zivilisation“ malte der Soziologe Dietmar Kamper auf dem Symposion zum Thema „Wildnis“, das das Haus der Kulturen der Welt in Berlin diese Woche veranstaltete, entsprechend bedrohlich an die Wand. Die Strategie einer restlosen Zivilisierung des Wilden, Ungeordneten und Ungeregelten, der inneren wie auch der äußeren Natur, verkehrt sich bald, so lautet die düstere Prophezeiung, in ihr Gegenteil: in globale Verwüstung und Verrohung. Nicht die Wildnis ist das Gegenteil von Kultur und Zivilisation, sondern die Barbarei.

Die historische Schnittstelle, an der die Bewohner Europas ihr Verhältnis zur „Wildnis“ aufgekündigt haben, liegt um 1800. Bis dahin, so kann man es in der Literatur, in Reiseberichten und philosophischen Schriften der damaligen Zeit nachlesen, gab es ein Wissen darum, daß es geordneten Raum, also Zivilisation nur geben kann, wenn es auch ungeordneten Raum, ein Jenseits der Zivilisation gibt. So war auf den alten Landkarten stets vermerkt: „Hic sunt leones“. Hier sind die Löwen – hier beginnt die Wildnis.

Austreibung des Widerspenstigen heißt seither das exorzistische Kulturprogramm der Zivilisation. Wälder werden abgeholzt und Flüsse begradigt, Gene werden manipuliert und Verrückte psychotherapiert. Die Vernichtung all dessen, was einmal „noch nicht“ zivilisiert war, bedeutet mehr als bloß einen Schwund an möglicher Erfahrung. Auf dem Berliner Symposion gab man sich daher auch keineswegs melancholisch, sondern besorgt. Wir haben die Wildnis nicht nur vernichtet, so der sozio-psychologische Befund, wir haben nicht einmal mehr eine Vorstellung von ihr. Beschriebe man die Geschichte der Zivilisation als eine Geschichte ihrer wechselnden Bilder von der Wildnis, ihrer Projektionen und Besetzungen, wäre sie heute zuende. Aus einer nicht integrierbaren „Außenstelle“ der Zivilsiation ist eine „Leerstelle“ in ihrem Inneren geworden.

Das Dutzend eingeladener WissenschaftlerInnen verbreitete Endzeitstimmung, und doch war das apokalyptische Pathos unterschiedlich verteilt, nämlich je nachdem, wieviel „Wildnis“ man auf der Erde derzeit noch ausfindig machen konnte. Während ein Großteil der SozialwissenschaftlerInnen, die sich mit der „inneren“ Wildnis, den verborgenen und verschlungenen Wünschen, Ängsten und Lüsten der Menschen beschäftigten, „nur“ dezente Sorgenfalten auf der Stirn trugen, sahen die NaturwissenschaftlerInnen für die „äußere“ Wildnis, unsere Wälder, ziemlich schwarz: Das Ökosystem sei gänzlich aus dem Lot.

Das Krisenszenario einer bevorstehenden Ökokatastrophe, wie es die indische Physikerin Vandana Shiva vorstellte, war indes von einem merkwürdigen Utopismus flankiert. Wildnis, das sei gar nicht, wie es aus der Sicht der Sozialwissenschaften erscheint, das Andere jeder Ordnung, die Unordnung; unter Wildnis müsse man vielmehr eine andere Ordnung verstehen, nämlich die eigene Ordnung des einzelnen Lebewesens. Wildnis, das sei Selbstorganisation statt Fremdorganisation. Man muß die Natur, die innere wie die äußere, nur machen lassen, und schon wird alles wieder gut.

Auf diesen aus Chaosforschung stammenden Wildnisbegriff wollten sich die SozialwissenschaftlerInnen jedoch nicht einlassen. Globale Wildnis ist keine Lösung. Eine Gesellschaft aus Borderliners, Amokläufern und Gewaltverbrechern ist bestimmt keine Alternative, eine ohne Luft und Wasser schon gar nicht. Zur Wildnis jedoch führt kein Weg mehr zurück, aber auch auch keiner mehr an ihr vorbei. Die Wildnis ist eben wild, und das heißt, man kann sie nur gelegentlich „bereisen“.

Die japanische Anthropologin Yoriko Kanda berichtete von einem neuntägigen Todes- und Auferstehungsritual, das jährlich in Nordjapan von Bergmönchen zusammen mit Laien durchgeführt wird. Der Initiationsritus ist vielleicht ein solcher Ausflug in die Wildnis, eine Art „Gebirgstraining“ fürs Leben, das wir offenbar nicht auf Anhieb können.

Auch der Griff ins Bücherregal kann solcher Übung dienen, ist doch die Literatur der Ort, an dem die kulturellen Ordnungen ein Stück weit verschoben und durchlässig werden können für die Risse im Subjekt. „Wir müssen mit dem Löwen reden, damit er uns nicht frißt.“ Was aber, wenn wir ihn nicht verstehen?

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