Die Mona Lisa hat es einfach getan

Nicht weil sie eine Million Dollar verdient lächelt sie, sondern weil es ihren Seelenzustand ausdrückt: Wie erwartet gewann die Branchenbeste Uta Pippig gestern zum dritten Mal den Berlin-Marathon  ■ Aus Berlin Peter Unfried

Oben am Kudamm, ein paar Schritte vor der Gedächtniskirche, kam sie zum Halten. Die Kameras schwenkten barsch weg vom Gesicht des Trainers Dieter Hogen, hin zur Siegerin. Die Fäuste gingen hoch, eine schrille Lautmalerei der Erleichterung war zu vernehmen, dann ging Uta Pippig bereits wieder ihrer Arbeit nach: Aus schweißiger, knittriger, bebender Haut formte sich ein Lächeln. Aus der Tasche zerrte sie ein T-Shirt. Auf daß bei der unmittelbar bevorstehenden Interview-Kette auf der Brust der Siegerin zu sehen sei: erstens, die Zeit (2.25,36 Stunden), von der sie wenige Sekunden später sagen würde, sie sei „sehr, sehr zufrieden damit“ und mit der sie ihre Weltjahresbestzeit von Boston nur um 25 Sekunden verfehlte. Und zweitens die Botschaft jenes Sponsors, der ihr mit einer geschätzten halben Million Dollar pro Jahr beisteht: I just did it.

Im AthletInnen-Hotel hatte man Uta Pippig (30) vor dem Rennen eine Büste enthüllen lassen. Der Finne Eino, Marathon-Manager und Bildhauer, wollte damit jenes Gefühl bannen, „daß die Läufer haben, wenn sie den Marathon rennen“, wenn sie den menschlichen Körper binnen gut zweier Stunden 42,195 Kilometer fortbewegen. Die Büste zeigt eine Uta Pippig mit wehenden Haaren und einem Gesicht, das Ernst und Anspannung des Rennens widerspiegelt, jedoch keine Qual. Fast genauso ist sie gestern durch die Straßen Berlins gerannt. Angespannt, als sie hinter der Kenianerin Angelina Kanana (30), Siegerin vom Hamburg, an zweiter Stelle liegend durch Mitte und Kreuzberg gerannt war, doch nie verkrampft: Sobald die Leute sie kommen sahen, hoben die „Uta“-Chöre an. Und Uta lächelte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt Sorgen hatte. Bei 14 Kilometern gab sie dem Trainer Hogen die Botschaft, sie habe bereits zwei Trinkflaschen verpaßt, später kamen Krämpfe, und doch war Pippig schon zu diesem Zeitpunkt „sicher, zu gewinnen.“

Kanana war zwar bei 25 Kilometern die Potsdamer Straße runter noch ein paar Sekunden vorn, doch Pippig lief geborgen in einem kleineren Männerpulk ein ausgeglichenes Rennen. In Zehlendorf drunten, bei Kilometer 35, hatte sie eine halbe Minute Vorsprung herausgelaufen. Zwei kamen noch dazu.

Der Rest war Lächeln. „Sie ist“, das hat der Bildhauer Eino schön ernst gesagt, „definitiv meine Mona Lisa.“ Was nicht heißt, daß die Frau besonders geheimnisvoll zu lächeln pflegte. Pippig lächelt, und Leute, die sie besser kennen, sagen, sie lächle nicht, weil sie eine Million Dollar im Jahr verdiene, sondern weil das schlicht ihrem Charakter und Seelenzustand entspreche. Im Branchenzweig Marathon, der ein bisserl darunter leidet, daß seine ausgemergelten Helden mit den schmalen Gesichtern für die fetten Schlagzeilen nicht recht taugen, ist Uta jedenfalls einzigartig. Konkurrentinnen hat sie, wenn, dann nur auf der Strecke. Etwa die diesmal abwesende blasse Vorjahressiegerin Katrin Dörre-Heinig, an deren Streckenrekord (2.25,15) wegen der Krämpfe „nicht mehr zu denken war“ (Pippig). Sie geschlagen hat seit 1992 keine mehr. Und beim Kunststück, sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu plazieren, ist Uta unumstritten in einer Klasse für sich. „In a class of her own“, wie sie sagen würde, die bei öffentlichen Präsentationen zweisprachig zu agieren pflegt und dabei keinen Nebensatz vergißt und auch nicht die Stellen, an denen sie jeweils das Lächeln plaziert. Ist gar nicht so negativ gemeint, wie es vielleicht klingt. Professionalität, sportliche und mediale, hat sie zu Bill Clinton gebracht, zweimal, und, was noch mehr zählt, in Dave Lettermans „Late Show“.

Dahin zu kommen allerdings muß eine junge Frau viel laufen, zwischen 150 und 250 Kilometer die Woche. Und sonst gar nichts. Das Gespann Pippig/Hogen lebt bekanntlich in Boulder, Colorado, und das primär deshalb, weil Marathonläufer in der Höhe trainieren müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Auch so ziemlich alles andere, was Pippig/Hogen tun, tun sie, sagt man, um pro Jahr zwei Marathons laufen zu können.

Dieter Hogen hat auf dem Kudamm auch gestrahlt. „Wenn man beide Sieger stellt bei einem so großen Marathon“, hat er gesagt, „kann es nicht besser gehen.“ Männersieger Sammy Lelei (Kenia) ist Trainingsgefährte Pippigs. Jetzt gehen er und Uta Pippig erst einmal in den Urlaub, „ganz schön lang“, wie Pippig sagt.Rast? Ja, aber eigentlich auch bereits eine Art Trainingsbeginn, weil „entscheidend für die Olympia-Saison“ (Pippig). Atlanta ist wichtig, noch wichtiger aber der 100. Boston- Marathon, jenes Rennen, das Uta Pippig berühmt und schön reich gemacht hat. Die letzten beiden Male hat sie in Boston gewonnen. „Man träumt ja immer so“, sagt sie, „maybe I can realize my dream“. In der Branche aber, die einerseits wie keine andere die sportliche Leistung als solche fordert, huldigt man andererseits wie fast nirgendwo dem Fetisch der Zahlen und Rekorde. Weltbestzeit! Die hält noch immer Ingrid Kristiansen (2.21,06 Stunden). Wann Uta? „Wenn ich die mentale Power habe. Vielleicht in Boston.“ Und dann ist da noch die Barriere, die 2 Stunden 20 Minuten heißt. Mythische Zahlen! Ganz vorne, vor der Spitze des Feldes, fuhr der Wagen mit der Uhr auf dem Dach. Was für ein Bild: Die Menschen, die der Zeit davonrennen wollen, müssen in jeder Sekunde sehen, daß man ihr stets nur hinterherrennen kann.

Als Bildhauer Eino die Pippig- Skulptur enthüllt hatte, da verkündete er: „Ihr Name ist 2.19,59.“ Noch eine Zahl! Mit ihr wäre ein Lebensziel der Laufgemeinschaft Pippig/Hogen vollendet. Uta Pippig hat, als sie es gehört hat, eine klitzekleine Fratze angedeutet. Dann hat sie gelächelt.