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Der normalste Mensch der Welt sagt nein

Uwe Seeler wird nicht Präsident des HSV. Jedenfalls jetzt noch nicht. Nach der gestrigen Absage des Berufsidols ist zwar nicht der Verein am Tief-, dafür aber die Posse auf einem Höhepunkt  ■ Aus Hamburg Thomas Miebach

Schlag 14 Uhr sprach gestern Uwe Seeler: „Der HSV ist nur ein kleiner Provinzverein.“ Potzblitz! Was er damit sagen will: Macht euern Dreck ohne mich! Seeler wird also nicht Präsident des Hamburger SV. Oder zunächst mal: Noch nicht. Ob der Verein damit „am Tiefpunkt seiner Geschichte“ angelangt ist, wie dpa eilig vermutete, ist mehr als fraglich: Zumindest ist die hanseatische Posse auf einem neuerlichen Höhepunkt.

Das alles hat Uwe Seeler nun wirklich nicht ahnen können, als sein Aufstieg zum Präsidentschaftskandidaten vor wenigen Monaten mit einer feinmotorischen Bewegung begann, die, sagen wir, tief blicken ließ: eingefangen von einem aufmerksamen Kameramann mit Blick fürs Detail beim Fernsehinterview. Da saß also, leicht verlegen, das Berufsidol auf einer Art Mäuerchen, und die Totale fing seine Hand, die erst einen Moment und dann bis zur Gewißheit im, tja, Schritt verharrte. Eindeutig und nicht mal retuschierfähig durch raschen Schnitt: Der Uwe aller Deutschen tat, was honorable Personen sich nicht zu trauen wagen, zumindest nicht öffentlich: Er hielt, während er belanglos plauderte, voller Behagen sein Gemächt. Nur Baumwolle dazwischen. Oder war's Flanell?

Mit dem gebotenen Fingerspitzengefühl ging tags drauf Bild auf Tuchfühlung und fabulierte unter das Foto Seelers in ebendieser Pose den wunderbaren Slogan: „Uwe, pack's an!“ Vielleicht deshalb, weil etwas, was Hand hat, auch Fuß haben sollte. Bei Seeler (58) gab's diesbezüglich keine Zweifel.

Und der Kausalzusammenhang zwischen dem in Millionenhöhe gedruckten Aufruf „Pack's an!“ und der in Millionenhöhe gedruckten Antwort „Ich mach's“ lag einfach nahe. Schließlich wäscht eine Hand die andere, und vermutlich kündet er demnächst ja doch noch exklusiv aus dem dünnen Blatt. Tatsache ist, daß nie zuvor die Hamburger Journaille unverfrorener alliiert hat, den kreuzbraven Uwe zum Heilsbringer des morbiden Klubs hochzujazzen und ihm so vermeintlich letztlich keine Wahl zu lassen.

Das alles geschah selbstverständlich ohne Rücksicht auf etwaige demokratische Gepflogenheiten, welche die amtierenden Präsidialen unter Vorsitz des charismafreien Dentallaborbesitzers Ronald „Ronny“ Wulff rechtmäßig und mit großer Mehrheit ins Amt befördert hatten. Handstreichartig und hauptsächlich populistisch legitimiert wurde der Vorstand entnervt, bis Wulff klein beigab, seinen Rücktritt anbot und Seeler und dessen Schattenkabinett vermeintlich das Tor geöffnet hatte. Bild hatte vorsorglich vor der entscheidenden montäglichen Sitzung gedroht: „Heute Uwe – Tag oder gute Nacht HSV“. Und dann kam alles ganz anders: „Wir bleiben im Amt“, erklärten Vize- Präsident Hans Schümann und Schatzmeister Gerhard Flomm. Vielleicht wollten die beiden sich nur nicht erpressen lassen. Oder als Hanswurste behandelt sehen. Andererseits hat ihnen Montag nacht der Gesamtausschuß des Vereins auch ausdrücklich nahegelegt, bis zur Neuwahl am 27. November im Amt zu bleiben. Die beiden haben Mut: Die sogenannte Volksseele ist längst so aufgehetzt, daß etwaige „Kommandos Uwe Seeler“ nicht auszuschließen sind.

Seelers Problem ist jedenfalls klar: Erstens ist der Mann stets ein Dickkopf gewesen. Auch zu aktiven Zeiten mußte alles nach seinem Willen geschehen. Zweitens hat er sich seine Gefolgschaft auch deshalb ausgesucht, weil er die Arbeit alleine nicht machen will – und auch nicht machen kann. Uwe rein, sein Team draußen, das kam nicht in Frage.

Aber weil Bild nun mal die Dinge ins Laufen gebracht hat und das Blatt traditionell die große Lösung anstrebt, wird Trainer Benno Möhlmann – im Konsens mit dem Gesamtausschuß – zügig entsorgt. Möhlmann, vom alzheimernahen Bild-Kolumnisten Max Merkel vor Saisonbeginn als „Bratwurst“ tituliert, will aus zwei zuverlässigen Quellen erfahren haben, daß sein Schicksal, ehe noch ein Ball getreten, beschlossen war: „Es hieß, selbst wenn er zehnmal gewinnt – den schreiben wir weg.“ Aus den rauhen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit jedenfalls hat der Geschaßte für den vermeintlichen Vorsteher die Mahnung gefiltert: „Hoffentlich weiß der Uwe, worauf er sich eingelassen hat.“

Daran darf – mit Verlaub – heute noch mehr gezweifelt werden als gestern. Auf die Frage nach seiner größten Schwäche hat Seeler unlängst vielsagend zu Protokoll gegeben: „Daß ich nicht nein sagen kann.“ Der Umkehrschluß, wonach Seeler ein passionierter Jasager ist, wäre gleichwohl zu einfach. Seeler ist vor allem das, was andere in ihm sehen und immer in ihm sahen. Lieb, nett, harmoniebeseelt, politisch korrekt, weil per se ziemlich unpolitisch. Fehlt nur noch abwaschbar und FCKW-frei [und unkaputtbar, d. s-in]. Ein lebendes Klischee. Und das stört ihn nicht mal. Folgender Dialog, der neuen Ausgabe von Sports entnommen, ist verbürgt. Frage: „Stimmen denn die Klischees vom treuen, braven Uwe?“ Darauf Seeler, als handele es sich um eine Krankheit: „Ich habe noch nie ein Klischee gehabt. Geht nicht. Das würden Sie bestimmt sofort merken.“

Er ist tatsächlich so, „nämlich völlig normal, der normalste Mensch der Welt“ (Seeler). Eben so wie ungefähr 90 Prozent der Deutschen, die in ihm auch sich erkannten, ihn (und damit auch sich) verehrten und ihn zu Wirtschaftswunderzeiten als „Uns Uwe“ adoptierten. Weil der immer rackerte und kämpfte und die Ärmel hochkrempelte und einmal sogar – 1965 beim entscheidenden Qualifikationsspiel in Stockholm – mit frisch vernarbter Achillessehne die Teutonen zur WM nach England trat.

Das vergißt man nicht. Auch nicht, wie er 1961 ein für damalige Verhältnisse traumhaftes Angebot von Inter Mailand ausschlug. Er blieb und verankerte seinen Ruf als bodenständiger Saubermann, den nicht mal das große Geld treiben kann. Natürlich, der Mann, der im zerbombten Hamburg in kleinen Verhältnissen aufwuchs und im ersten Lehrjahr 56 Mark verdiente, erreichte nie die Genialität eines Franz Beckenbauer. Denn: „Das Genie“, schrieb Adolph von Menzel, „besteht zu 99 Prozent aus Transpiration und zu einem Prozent aus Inspiration.“ Geschwitzt hat Seeler stets und ehrlich und offenbar stellvertretend für die vorm Fernsehschirm geeinte Nation. Der litt einfach glaubwürdiger.

Bis heute hat sich an diesem Glaubwürdigkeitsbonus nicht viel geändert. Und um diesen weiß der Mann – und den will er, wie sich nun zeigt, auf jeden Fall bewahren. Zwischen dem Seeler der sechziger und dem der neunziger Jahre sind fundamentale Unterschiede einzig in Kilogramm zu messen. „Ich komme“, sagt er, „wirklich aus einer anderen Generation.“

Seelers Streben nach Harmonie geht so weit, daß er selbst die unverfängliche Frage nach den drei klügsten Köpfen unserer Zeit mit einem Strich beantwortet. Sein Konzept? Sein Name. Jetzt, da er „sehr enttäuscht“ ist über „das Gespräch mit dem Präsidium und die Entwicklung“, da Disharmonie ihn ärgert und verstört, zieht er den Namen zurück. Vorerst?

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