: Gegen das Jucken hilft nur ein Joint
Matthias ist HIV-positiv, Alexander hat Krebs: Schmerzen und Übelkeit halten sie nur mit Marihuana aus. Der Arzt Robert Gorder will Cannabisprodukte auch in Deutschland als Medizin anwenden ■ Von Torsten Preuß
„Fortschritte in der Medizin waren immer wieder mit dem Mut verknüpft, kulturell gesetzte Grenzen zu überschreiten.“
(Ellis Huber, Präsident der
Berliner Ärztekammer)
Manchmal sind die Nächte schwer und lang. Einfach fürchterlich. Nicht auszuhalten, ohne zu heulen. Dann juckt es und juckt es. Auf dem Rücken, unter den Armen oder im Gesicht. Oder überall. Eine Weile hält er durch, aber irgendwann kratzt er doch. Seine Fingernägel reißen dabei kleine Fetzen von der Haut.
Die feinen Wunden legen das Fleisch frei und öffnen seinen Körper für Bataillone umherschwirrender Bakterien. Und für den Tod. Jede Infektion macht ihn schwächer. Sein Immunsystem ist so belastbar wie ein Stück Watte und trotzdem: „Manchmal möchte man sich schier zerkratzen“, sagt Matthias, 26 Jahre, HIV-positiv getestet im Dezember 1988. Seine Fingernägel hat er stumpf geschnitten, aber sehr viel hilft das nicht. „Einmal hatte ich fast zwei Monate lang einen offenen Rücken“, erinnert er sich, „blutig, eitrig, richtig schön eklig.“
Zur Zeit ist er das Problem fast los. Immer wenn es wieder juckt, bröselt Matthias seine Medizin auf den Tisch, mischt sie mit Tabak, umhüllt sie mit drei Blatt Papier, zündet sie an und zieht sie ein. Das hilft. „Es stoppt den Juckreiz ziemlich abrupt“, schwärmt er. Ob Ärzte, Patienten oder Therapeuten – längst hat sich bei denen, die tagtäglich mit Krankheiten umgehen müssen, die nur noch ertragen, aber nicht mehr geheilt werden können, eine alte Erkenntnis durchgesetzt: Marihuana ist Medizin. Nur ist die leider verboten, und das macht die Sache so schwer.
Kein Wundermittel ist es, aber eine Alternative, ein Ersatz für manches von dem, was einem Patienten im Laufe der Behandlung alles in den Körper kommt. „Jeden Tag schlucke ich x Medikamente, dazu Salben und Tinkturen, Cortison, Antibiotika und was weiß ich noch. Vieles mit Nebenwirkungen, die allein schon reichen, mir den Tag zu versauen. Ich bin mit Medikamenten so voll, ich will nicht mehr“, erzählt Matthias und vergleicht den Stoff aus der Natur mit dem aus dem Labor: „Die einzige Nebenwirkung von Marihuana ist erhöhter Snickerskonsum.“
Und trotzdem: Verboten ist verboten, und das heißt, die Medizin ist offiziell nicht zu kriegen. Marihuana oder Haschisch legal auf Krankenschein, in immer gleich guter Qualität, ohne immensen Kostenaufwand als Medikament zu beziehen – davon kann er nur träumen. Und nicht nur er. Damit, daß seine Haare ausgefallen sind, hat sich Alexander schon irgendwie abgefunden. Obwohl es nicht leicht war. Schließlich ist er gerade 29, und bis er vor drei Jahren erfuhr, daß er unheilbar an Lymphknotenkrebs erkrankt ist, war er ein Mann mit allen Chancen. Jetzt trägt er eben einen Hut, auch im Café.
Aber die Schmerzen, die Übelkeit, der Brechreiz – daran kann man sich nicht gewöhnen. Besonders schlimm ist es, wenn ihm nach einer dieser Chemotherapien die Kanülen wieder aus den Armen gezogen werden und er mit Valium ruhiggestellt werden muß. Vor Schmerzen „könnte ich dann die Wände hochlaufen“. Das Valium stellt ihn zwar ruhig, aber er fühlt sich regelmäßig „als hätte ich ein Brett vorm Kopf“. Ganz anders ist es, wenn er statt der chemischen Keule danach einfach einen Joint raucht. Die Schmerzen lassen nach, der Brechreiz setzt aus, er bekommt wieder Appetit und fühlt sich „einfach besser“.
Und manchmal, wenn er alleine ist, dann genießt er auch das, was allgemein als „High-Gefühl“ beschrieben wird. Es ist nicht einfach, mit dem Tod zu leben, und ein guter Joint und eine schöne Musik sind in einsamen Stunden mehr wert als irgendeines dieser chemischen Antidepressiva. Negative Begleiterscheinungen hat das Marihuana für ihn keine. „Das schlechteste Dope ist noch Gold wert gegen all die Blocker aus dem Labor.“
Davon ist auch Dr. Robert Gorder überzeugt, Leiter des Institutes für onkologische und immunologische Forschung am Krankenhaus Berlin-Moabit. Die medizinischen Wirkungen von Haschisch oder Marihuana sind ihm längst bekannt. Schon als er Ende der Sechziger in Amsterdam als Medizinstudent in einer Wohngemeinschaft lebte, mußte er akzeptieren, daß morgens meistens der Kühlschrank leer war, weil in der Nacht zuvor die Mitbewohner einen Heißhunger auf alles Eßbare bekamen. Der Grund lag in der Luft: Kiffen macht hungrig, und obwohl Robert Gorder selber nicht rauchte, merkte er sich den Effekt für die Patienten, die er heute behandelt: Krebserkrankte und HIV-Infizierte.
Sie alle leiden darunter, daß ihr Körpergewicht im Laufe der Krankheit unter eine Grenze sackt, die ihnen keine faire Chance mehr läßt. „Es ist ganz einfach“, sagt Matthias: „Mit 60 Kilo stehe ich eine Lungenentzündung noch durch. Mit 45 nicht. Da winkt die Urne.“ Viel essen bedeutet, länger zu leben, und wer kifft, bekommt Appetit. So einfach ist das. Aber auch so schwer – denn Ärzte, die Marihuana einsetzen wollen, kommen mit dem Gesetz in Konflikt. Obwohl es ernsthaft keine wissenschaftlich haltbaren Argumente mehr gegen den Einsatz von Cannabisprodukten in der therapeutischen Behandlung von Aids-, Krebs-, Multiple-Sklerose- und anderen Patienten gibt, kann es offiziell nicht empfohlen, geschweige denn verschrieben werden. Jahrzehntelang verteufelt als „Einstiegsdroge“, „Süchtigmacher“, als „gesundheitsgefährdend“ und „kriminell“, ist die Öffentlichkeit über Cannabisprodukte auf einem Informationsstand, der mit „lächerlich“ ziemlich treffend beschrieben ist.
„Die Situation muß sich grundlegend ändern“, fordert Robert Gorder, und darum kämpft er jetzt in Berlin. Er weiß, wovon er spricht, und hat den Vorteil, über Erfahrungen zu verfügen, die in Deutschland so noch nie gemacht werden konnten. 1983 ging er von Holland in die USA, an das General Hospital in San Francisco. 1985 wurde in Amerika ein Medikament zugelassen, das den Hauptwirkstoff von Cannabis, das psychoaktiv wirkende Tetrahydrocannabinol, kurz THC, enthielt. Verschrieben werden durfte es aber nur an Patienten, die unter den extremen Begleiterscheinungen der Chemotherapie litten. In Sesamöl aufgelöst und in einer Gelatinekapsel verpackt, kam das synthetisch hergestellte THC als „Marinol“ auf den Markt.
Gorder fing an, das Mittel auch HIV-Positiven zu geben. Auf einer Skala von 1 bis 10 sollten die Patienten acht Wochen lang jeden Tag ihre Befindlichkeiten eintragen. Ergebnis: Neun von zehn fühlten sich eindeutig besser. Sie nahmen wieder zu, verspürten weniger Übelkeit, und die Schmerzen ließen nach. Als optimale Dosierung fand das Team um Gorder 2,5 Milligramm, verabreicht zweimal am Tag, heraus. Negative Nebenwirkungen wurden keine festgestellt.
1991 wurde das Medikament in den USA auch für die Behandlung HIV-Positiver zugelassen. In Deutschland fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz und ist verboten. „Eine eindeutig politische Entscheidung“, sagt Robert Gorder und findet, daß darüber „zuerst einmal Wissenschaftler und Ärzte entscheiden sollten“. Im Mai dieses Jahres hat Dr. Robert Gorder beim „Bundesamt für Arzneimittel“ in Berlin deshalb die Durchführung einer „Marinol-Studie“ an 120 HIV-Positiven beantragt. Nachdem die erste Reaktion nur ungläubiges Staunen war, sieht es jetzt so aus, als könnte es klappen. Erstmals würden damit in Deutschland die positiven Wirkungen des angeblichen „Teufelskrauts“ untersucht; wissenschaftlich so fundiert, daß Politikern und Boulevardblättern die Totschlagargumente zum Thema ausgehen könnten.
„Die Zeit ist reif“, sagt Dr. Gorder. Immer wieder fragen ihn Patienten, wie sie an die verbotene Medizin herankommen könnten oder ob die ihnen gerüchteweise zu Ohren gekommenen positiven Wirkungen der Wahrheit entsprächen. Die älteste Patientin, von deren Marihuanakonsum Gorder so erfuhr, war 80 Jahre, hatte Brustkrebs und anfänglich allergrößte Angst, vom Staat einfach weggesperrt oder für immer süchtig zu werden. Vor zwei Wochen ist sie gestorben, aber dadurch, daß ihr Enkel mit ihr bis dahin täglich einen Joint teilte, wurden die Schmerzen bis zum Tod erträglicher. „Meine Patienten auf die positiven Wirkungen von Cannabisprodukten hinzuweisen halte ich für meine Pflicht als Arzt“, sagt Robert Gorder. Mit dieser Einstellung ist er nicht mehr allein. „Unter der Hand haben mir alle meine Ärzte geraten, es doch mal mit Marihuana zu versuchen“, schildert Matthias seine Erfahrungen.
Trotz Verbots gibt es mittlerweile nicht nur in Berlin Apotheken, die aus Marihuana eine Urtinktur herstellen und an Aids- oder Krebskranke weitergeben. Ein Vorteil: Die Medizin muß nicht geraucht, sondern kann mit einem Teelöffel bequem konsumiert werden. Der Nachteil: Man braucht dazu sehr viele der Pflanzen. Die aber sind wegen des Verbots nur schwer zu bekommen und dadurch auch viel zu teuer. Noch aber sind nur wenige Ärzte bereit, die verbotene Medizin in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Der Berliner Arzt Dr. Jörg Claus hat gemeinsam mit der Deutschen Aids-Hilfe 700 Fragebögen an seine Kollegen verschickt, um erstmals verläßliche Zahlen über Konsum und Anwendung von Cannabisprodukten in der Therapie zu bekommen. Die Rücklaufquote allerdings ist gering, was ihn zwar erregt, aber nicht erstaunt. „Das ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Tabuisierung.“ Daß bis heute durch die geltenden Gesetze praktisch keine Forschungen betrieben werden konnten, nennt er einen „medizinischen Skandal“. Am 29. Oktober wird in Berlin zum ersten Mal öffentlich über das Thema debattiert. Auf Einladung der Berliner Ärztekammer und der Deutschen Aids-Hilfe referieren an diesem Tag Experten aus dem In- und Ausland zum Thema „Medizinischer Gebrauch von Cannabis“.
Das Symposium könnte der erste Schritt zur Legalisierung von Cannabis als Medizin sein. „Was mich so extrem nervt“, sagt Alexander, „ist der Aufwand, um das Zeug zu besorgen.“ Matthias geht es ähnlich: „Als Schwarzmarktprodukt ist es völlig überteuert, wenn ich Pech habe, liegt die Qualität irgendwo zwischen Linoliumverschnitt und Hundescheiße, und dazu kommt das Risiko, kriminalisiert zu werden.“ Alexander selber hat höchstens noch drei Jahre. Ob sich die Situation in dieser Zeit noch ändert? Er zuckt die Schultern. „Schön wär's.“ Die nächste Chemotherapie kommt sicher, und dann sind die Nächte wieder schwer und lang.
Am 29. September erscheint eine Hanf-Beilage in der taz, in der u.a. Informationen über die medizinische Anwendung von Cannabis zu finden sind.
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