piwik no script img

Führungslos im Massenstreik

Während türkische Arbeiter zu Hunderttausenden im Ausstand sind, versucht Tansu Çiller, eine neue Koalition zu schmieden  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Dreihunderttausend Arbeiter des staatlichen Sektors der Türkei befinden sich im Streik, nachdem die Tarifverhandlungen zwischen Staat und Gewerkschaften gescheitert waren. Trotz einer Inflationsrate von 80 Prozent hatte die Regierung Tansu Çiller den Gewerkschaften eine Lohnerhöhung von fünf Prozent angeboten – und sich prompt den größten Streik seit dem Militärputsch 1980 eingehandelt. „Tansu Çiller hat einen Krieg gegen die Arbeiter eröffnet“, kommentiert Bayram Meral, Vorsitzender der größten Gewerkschafsföderation Türk-Iș.

Am 7. Oktober wollen die Gewerkschaften in der Hauptstadt Ankara mit einer Großdemonstration ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Eine Machtprobe bahnt sich an zwischen den Gewerkschaften und der Regierung. Dabei versucht die lediglich, den Forderungen des Internationalen Währungsfonds nachzukommen.

Vom Streik ebenso unbeirrt wie von allen neuen Vorwürfen wegen der Lage der Menschenrechte bastelt die türkische Ministerpräsidentin Çiller an einer neuen Koalition. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Eiserne Lady der Türkei, die die Wirtschaftspolitik den neoliberalen Gewerkschaftsfeinden und die Innenpolitik den kriegsführenden Generälen anvertraute, weiter im Amt bleiben.

Nach dem Bruch der Koalition mit den Sozialdemokraten am Mittwoch letzter Woche hat Staatspräsident Süleyman Demirel sie erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Çillers „Partei des rechten Weges“ (DYP) wollte eigentlich mit der konservativen „Mutterlandspartei“ (Anap) eine Koalition bilden – gestern wurden die Gespräche ergebnislos abgebrochen. Jetzt wird Çiller sich wohl an einer Minderheitsregierung versuchen, die dann von der faschistischen „Nationalistischen Aktionspartei“ (MHP) und einigen Kleinstparteien gestützt würde.

Die großen Unternehmerverbände hatten auf eine große Koalition der beiden großen Rechtsparteien DYP und Anap gedrängt, die zusammen über 286 Sitze in der 500köpfigen Nationalversammlung verfügen. Beide unterscheiden sich in ihrer Programmatik kaum – ihr Verhältnis ist jedoch geprägt von persönlichen Animositäten zwischen Çiller und dem Anap- Vorsitzenden Mesut Yilmaz.

Als Çiller der Mutterlandspartei das erste Koalitionsangebot unterbreitete, stellte sie vier Bedingungen: Die Regierung dürfe keine „Wahlregierung“ sein, sondern müsse an der „Lösung der Probleme des Landes arbeiten“. Die Minister sollten prozentual nach der Repräsentation im Parlament erteilt werden. Mesut Yilmaz müsse Mitglied des Kabinetts werden und vorgezogene Neuwahlen – unablässige Forderung der Mutterlandspartei – könnten frühestens im Juni stattfinden.

Nach langen Querelen im Parteivorstand akzeptierte die Mutterlandspartei die Bedingungen Çillers, stellte ihrerseits jedoch Bedingungen, die jetzt offenbar für Çiller unakzeptabel waren. So wollte die Anap fast alle Schlüsselministerien zur Steuerung der Wirtschaftspolitik besetzen. Außerdem sollten – unabhängig von den Bedingungen des Internationalen Währungsfonds – den Arbeitern „angemessene Lohnerhöhungen“ zugestanden werden. Die Mutterlandspartei blieb dabei – die Koalitionspläne waren geplatzt.

Bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt das alte Kabinett provisorisch im Amt. Wegen des Streikes jedoch redet hier niemand mehr miteinander. Mit deftigen Kraftausdrücken drohte Tansu Çiller dem sozialdemokratischen Arbeitsminister Ziya Haliș – der weigert sich, eine Regierungsverfügung zu unterschreiben, die den Streik in der Zuckerfabriken per Gesetz beendet.

Wenige Tage zuvor hatte die liberale Istanbuler Tageszeitung Yeni Yüzyil („Das neue Jahrhundert“) eine geheime Anweisung des Innenministeriums an den Ausnahmerechtsgouverneur in den kurdischen Provinzen publiziert. 193 Bauunternehmern kurdischer Herkunft sollen keine Aufträge erteilt werden, weil sie „Beziehungen zur terroristischen PKK“ unterhalten. Einer der 193 namentlich aufgeführten Unternehmer ist der sozialdemokratische Arbeitsminister Ziya Haliș.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen