: Rendezvous in Paris
Trotzkisten aus aller Welt trafen sich am Samstag bei der Beerdigung von Ernest Mandel ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Die faltige rechte Hand zittert einen Moment. Dann ballt sie sich zusammen und geht hoch. Vorbei an der schwarzen Cordhose, dem blütenweißen Hemd, der leuchtendroten Krawatte und dem schütteren Haar. Michel Lequenne streckt seine Faust in den blauen Pariser Himmel und singt die Internationale: seine letzte Ehre für den Genossen Ernest Mandel, dessen Urne gerade bestattet worden ist.
Ein paar hundert Gefolgsleute des im Juli verstorbenen 72jährigen Vordenkers der trotzkistischen Vierten Internationale haben sich an diesem Samstag auf dem Pariser Friedhof „Père Lachaise“ eingefunden. Mandel wollte in der Nähe der „Mauer der Föderierten“ bestattet werden, einer Wallfahrtsstätte der Linken, wo stets frische rote Rosen liegen. 1871 hatten sich die letzten Verteidiger der Commune bis zu der hintersten Friedhofsmauer zurückgezogen. Im Morgengrauen wurden sie von Regierungstruppen massakriert und an Ort und Stelle verscharrt. Im Jahrhundert danach entstanden in der Nähe ihres Massengrabes Mahnmale für die Opfer des Spanienkrieges und des deutschen Faschismus sowie für die in der Résistance Gefallenen.
An diesem Samstagmorgen gehört der Friedhof den Trotzkisten. Sie sind aus aller Welt gekommen – besonders aus Frankreich und Deutschland, wo der Belgier Mandel in den siebziger Jahren Einreiseverbot hatte. Als der revolutionäre Marxist und Wirtschaftswissenschaftler seine Berufung an die Freie Universität Berlin erhielt, an deren Befolgung ihn die Bonner Regierung hinderte, war die Welt der linksextremen Organisationen noch in Ordnung. Es gab Kommunisten, die sich an Moskau orientierten, an Peking, an Tirana, und solche wie Mandel, die all jene bürokratisierten und stalinistischen Systeme genauso vehement kritisierten wie den Imperialismus.
Seither hat sich in der revolutionären Szene vieles verändert. Die Orthodoxen verloren ihre Zentrale in Moskau, die meisten K-Gruppen lösten sich auf, und viele einstige Revolutionäre traten ein bürgerliches Leben an. Die Trotzkisten jedoch, die nie ein real existierendes Regime zu verteidigen hatten, sind geblieben – wenngleich auf zahlreiche Gruppen und Grüppchen verteilt.
„Die kritische Masse bei der Parteispaltung beträgt drei“, beschreibt Thomas aus Hamburg die inflationäre trotzkistische Gruppenbildung. Früher war er, wie fast alle anderen deutschen Trauergäste, Mitglied der GIM und aktiver Gewerkschafter. Seit die GIM sich 1986 auflöste, zog er sich zurück. Seine Genossen verteilten sich auf verschiedene Gruppen.
Der langjährige Spitzenfunktionär der IG Metall, Jakob Moneta, der zahlreichen Parteien angehört hat – darunter bis zu seinem Rausschmiß 40 Jahre lang der SPD –, entschied sich für die PDS, der Nachfolgeorganisation jener stalinistischen Partei, die die Trotzkisten bekämpft hatte. Dort wird „in die Zukunft diskutiert“, sagt er, und dort sei innerparteiliche Opposition möglich.
Der 37jährige Essayist Boris Kagarlitzky aus Moskau nennt sich nicht „Trotzkist“, sondern „Marxist“, was „heutzutage in Rußland schon schwer genug“ sei. Der junge Iraner Ramin, der einst der „Volksfedayin-Guerilla“ angehörte und lange im Gefängnis saß, zieht es vor, sich als „revolutionären Marxisten“ zu bezeichnen, der von Mandel beeinflußt sei. Die Französin Arlette Laguiller, die beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen über 5 Prozent der Stimmen bekam, nennt Mandel einen „Lehrer“, mit dem sie früher demonstriert habe.
„Vor allem wegen der älteren Leute“ ist der 26jährige Sam aus Wiesbaden mitgekommen. Er meint jene über 40jährigen, die das Gros der Trauergemeinde ausmachen und von denen viele am Mai 68 beteiligt waren. Er selbst kam über die Autonomen-Szene zu den Trotzkisten. Im Wiesbadener „Café Che“ macht er Schulungen mit Mandels Texten. Von einer Krise des Trotzkismus will Robert Went, Mitarbeiter des „Internationalen Forschungsinstitutes“ in Amsterdam, das Mandel mit gegründet hat, nichts wissen. Die Welt befinde sich in der Krise, aber die Diskussion in der Linken sei heute offener als vor dem Ende des Stalinismus, sagt Went, der demnächst ein Seminar über das Thema „Neue Fragen – neue Antworten“ abhält.
Michel Lequenne, der zu Ehren seines verstorbenen Genossen die leuchtendrote Krawatte trägt, sieht das anders. Er trat 1988, nach 45jähriger Mitgliedschaft, aus der Vierten Internationalen aus. „Eine neue historische Periode hat begonnen“, meint er, und es müßten neue Programme, „vielleicht sogar eine neue Internationale“ gefunden werden. Wenn das nicht gelingt, sieht der alte Kämpfer ganz schwarz. „Es ist nicht sicher, daß die Menschheit das 21. Jahrhundert erleben wird“, sagt er am Grab von Mandel.
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