: Aug' in Aug' mit der Bluebox
■ Auf arglistige Weise überraschend: Götz George gibt uns den "Sandmann" (20.15 Uhr, RTL2)
Fernsehen ist schrecklich, doch ärger noch ein Arbeitsplatz beim Fernsehen.
Vor allem diese Botschaft wird uns von diesem ersten selbstgebastelten RTL2-Fernsehfilm in Erinnerung bleiben. Schließlich geht es um klare Erinnerungswerte und langfristigen Profilgewinn, wenn die Privatsender in diesem Herbst wieder zur „TV-Movie-Offensive“ blasen. Die drei quotenmächtigeren Privaten RTL, Sat.1 und Pro7 haben das Terrain in der letzten Saison bereits erfolgreich abgelaufen, und die ARD rüstet mit immer mehr „Wilden Herzen“ nach. Nun also will RTL2 mit einer „experimentierfreudigen“, „außergewöhnlichen“ Reihe namens „Die jungen Wilden“ dem Fernsehfilm samt Sender neue Dimensionen eröffnen.
Allerdings versprüht „Der Sandmann“, der erste von vier Filmen, weder jungsche Wildheit noch irgendeinen nennenswerten Nachwuchscharme: Gilt Regisseur Nico Hofmann in der Branche doch längst als alter Hase und ist sogar ein, zwei Jährchen älter als Sat.1-Meister Fred Kogel oder RTL2-Programmchef Mainusch. Trotzdem ist „Der Sandmann“ auf arglistige Weise „überraschend“: zu sehen ist heute abend ein Film aus der Reihe „Fatale Selbsteinschätzung“.
Zwischen zwei gewichtige schwarze Balken gepreßt, eingebettet in ein formschönes „Ich bin so frei“-light-Design, gibt uns Götz George den Bestsellerautor und vermeintlichen Serienkiller Harry Kupfer, dem natürlich Karoline Eichhorn als naiv-ehrgeizige Fernsehredakteurin Ina Littmann auf den in diesem Genre obligatorisch bluttriefenden Leim gehen muß. Die Story, von Routinier Matthias Seelig ersonnen, hält sich freundlicherweise so sorgsam an Struktur und Motive aus „Das Schweigen der Lämmer“, daß die Genremuster schnell durchschaubar sind – Vaterkomplex, kindliche Traumatisierung etc. – und der Blick frei wird für die untergründige Filmstruktur einer selbstreferentiellen Generalkritik: Thrilling ist zum Beispiel, wie die hippe Arbeitswelt des Fernsehmachens als Hintergrund für den Entwicklungsroman der Heldin platt gewalzt wird. Wenn Ina Littmann am Morgen zur Arbeit eilt, werden ihr natürlich noch vor dem Sendegebäude die Quoten übergeben. Barbara Rudnik schwadroniert darüber, was man so alles anstellen muß, um eine Million Zuschauer zu erreichen, woraufhin natürlich ein alkoholabhängiger älterer Kollege fluchend den Dienst quittiert, weil er „ultimative Peep-Shows für spätberufene Psychopathen“ nicht mehr ertragen mag.
Im Zentrum des medialen Erkenntnisrahmens steht die einstündige Single-Guest-Talkshow „Aug' in Aug‘, einem späten Nachkommen der TV-Fossilien „Ich bekenne“ oder „Der heiße Stuhl“. Während die unermüdliche Ina Littmann ihren Talk-Gast Harry Kupfer vor laufender Live-Kamera eines Mordes bezichtigen möchte, hetzen dynamische Menschen, ausdauernd Papiere umhertragend, von einem Monitor zum nächsten: Beiträge über Silikonimplantate müssen noch schneller geschnitten werden, die obligatorische Wackelkamera operiert im Nahdranbereich. Das Seelenleben und die Lebenszusammenhänge sind von der Aussicht auf fragwürdige Karrieren korrumpiert und zerrüttet. Nirgends der Schimmer eines Welt- oder Selbstbildes, das beim Fallen Halt geben könnte.
So weit die offensichtliche selbstbezügliche Kritik des TV- Movies. Und doch lauert in der filmischen Erzählung ein noch viel dunklerer Verdacht. Denn der Spannungsaufbau läuft letztlich leer, und die finale Lösung des Filmspektakels als doppelte Inszenierung ist zuwenig plausibel, als daß man zufrieden in den Werbeblock fallen könnte. Allzu viele Erzählfäden hängen noch in der schweißgesättigten Luft: Während sich am Schluß Harry Kupfer („Kannst du mir sagen, warum ich mich so beschissen fühle?“) doch nicht als Killer, sondern als Schauspieler in einer von den Redaktionskollegen gesteuerten Intrige zu erkennen gibt (Hardcore-Mobbing!), bleibt Ina an ihrem eigenen Szenario eines Vergewaltigungsalptraums hängen. In blauem Lichtschein träumt sie sich Symbole für Sex, Gewalt und Perversion herbei. Blau ist das Licht in Kupfers Keller voller Leichen, blau ist es im Fernsehstudio, wenn George über seine Romanfigur sagt: „Meist fühlt er sich krank, ausgebrannt, wie vergiftet.“ Und blau ist die Einfärbung der dämlichen Konferenzinszenierungen in der echten RTL2-Reihe „Die Redaktion“.
Wenn der Abspann vorübergezogen ist, legt der tote blaue Schimmer des Fernsehlichts auf den Gesichtern der Zuschauer die Vermutung nahe: Fernsehen ist selbst der peinigende „Sandmann“. So gesehen haben Hofmann und Seelig doch noch einen trefflichen Autorenfilm für das private Fernsehen geschaffen: „Der Sandmann“ im Programm von RTL2 ist ein Kuckucksei, eine gangbare Sabotagestrategie gar im Umgang mit den vielfachen Zumutungen des kommerziellen Fernsehens: „Sichtbare Finsternis ist blau.“ Ralph Richter
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