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Die jüdische Gemeinde von Saloniki stellte in ihrer Blütezeit gut die Hälfte der Bevölkerung. Wer heute nach Zeichen jüdischer Präsenz sucht, muß sich Mühe geben. Ist eine Kultur, die die Nazis zu liquidieren glaubten, der europäischen Kulturhauptstadt 1997 des Erinnerns wert? Von Niels Kadritzke

Das Jerusalem des Balkans

Hymnischer läßt sich selbst das Gelobte Land nicht besingen: „Nirgends habe ich erlebt, daß Juden so aufrecht gehen und so laut sprechen... Saloniki ist der letzte Ort, wo der Antisemitismus Wurzeln schlagen könnte, und wenn es einen Ort auf der Erde gibt, wo man frohgemut Jude sein und es laut bekennen, ja über die Dächer der Stadt ausrufen kann, dann ist es dieser erste Hafen der Levante.“

Was der Korrespondent der Hilfsorganisation „Alliance Israélite Universelle“ (A.I.U.) augenreibend aus dem osmanischen Saloniki berichtet, liegt über hundert Jahre zurück. Könnte der Besucher von damals in das griechische Thessaloniki von heute zurückkehren, müßte er nach Anzeichen jüdischer Präsenz sehr lange und sehr mühsam suchen.

Der Grund ist mit einem Satz genannt: Die Herrenrasse war hier – auch hier. Auf der Platia Eleftheria, dem Freiheitsplatz in der Nähe des Hafens, ließen die Nazi-Okkupanten am 11. Juli 1942 alle jüdischen Bürger im arbeitsfähigen Alter, über 9.000 Männer, zu deutschen Freiübungen antreten. Wer in der brütenden Hitze umkippte, bekam einen Eimer Wasser ins Genick. Weitermachen. Obwohl Sabbat war, durften die Gedemütigten keine Kopfbedeckung tragen. Damit wurde der traditionsreichsten jüdischen Gemeinde Europas bedeutet, wer auf dem alten Kontinent die neuen Herren sind.

Den Appell hatte die Besatzungsmacht angeordnet, um die Juden als Zwangsarbeiter zu erfassen. Tatsächlich hatte man sie damit zum ersten Schritt auf dem Weg nach Auschwitz gezwungen. Kaum ein Jahr später war der letzte Zug aus Thessaloniki an der Rampe entladen. Von den 54.000 Deportierten haben nur 1.950 überlebt.

Heute kann man unweit des Freiheitsplatzes die „Protokolle der Weisen von Zion“ erwerben. Der fliegende Händler hat das Taschenbuch auf seinem Bücherkarren neben Kropotkin und Che Guevara plaziert. Er hält das antisemitische Machwerk für authentisch, die Freimaurer für allmächtig und sich selbst für einen flotten Antiimperialisten. Figuren wie er sind jedoch anachronistisch. Im heutigen Thessaloniki ist für Antisemitismus kein Platz. Die Stadt ist vielmehr ganz und gar a-semitisch. So, als hätte die große jüdische Vergangenheit nie existiert.

Und jüdische Gegenwart? Von den 32 Synagogen, die 1940 noch existierten, hat nur eine die Besatzungszeit überstanden, weil die Deutschen sie als Rotkreuz-Station benutzt hatten. Eine zweite, neue Synagoge liegt hoffnungslos versteckt im Erdgeschoß eines Bürogebäudes. In einem der Wohnviertel im Osten steht noch das Haus des Sport- und Kulturvereins Makkabi. Sein Orchester war früher in der ganzen Stadt bekannt. Berühmter noch wurde einer seiner Violinisten. Doch Jacques Stroumsa würde, wenn er könnte, auf den Ruf verzichten, den ihm sein Schicksal als „Geiger in Auschwitz“ einbrachte. Auch er hatte am 11. Juli 1942 zum Appell antreten müssen. Der Vernichtung entging er dank seines Geigenspiels, das ihn für das Lagerorchester qualifizierte. Und dank seiner Deutsch-Kenntnisse, die er an einer deutschen Einrichtung erworben hatte, die dem heutigen Goethe-Institut entsprechen würde.

Das klassizistische Makkabi- Gebäude liegt in der Odós Fleming, die bis in die fünfziger Jahre noch Odós Michrahim hieß, nach einem prominenten jüdischen Bürger. Die älteren Einwohner haben sich den alten Straßenname bis heute nicht abgewöhnt. Und auch ihr Stadtviertel nennen sie nach wie vor „Hirsch“ – nach dem Stifter, der um 1900 ein Krankenhaus für die Bewohner dieses ärmlichen jüdischen Quartiers errichten ließ. Das Hirsch-Hospital war während der Besatzung für die großdeutsche Wehrmacht reserviert.

Ein paar Straßen weiter wurde die Zweckentfremdung auf die Spitze getrieben. Die verfallene Fin-de-siècle-Villa in der Odós Belisariou 42 behauptet sich bis heute wie ein bröselndes Tortenstück zwischen den Toastscheiben der nackten Appartementblöcke. Die Villa gehörte einer jüdischen Familie, die im Februar 1943 für das „Sonderkommando der Sicherheitspolizei für Judenangelegenheiten Saloniki-Ägäis“ Platz machen mußte. Hier haben, im Auftrag Adolf Eichmanns, die SS- Hauptsturmführer Dieter Wisliceny und Alois Brunner die „Endlösung“ für Thessaloniki ausgearbeitet.

Wisliceny wurde 1947 in Prag wegen seiner Beteiligung an der Vernichtung der slowakischen Juden hingerichtet; Brunner irrlichtert bis heute als letzter steckbrieflich gesuchter Kriegsverbrecher zwischen dem Nahen Osten und Südamerika umher. Für die Opfer von Wisleceny und Brunner ist in ganz Thessaloniki nur ein einziges Denkmal zu finden. Es steht an einem Ort, wo es niemand suchen würde: im Charilaou-Viertel, wo niemals Juden wohnten. Seine Inschrift verschwindet regelmäßig unter den schwarzen Sprühparolen der Kids, denen ihr Fußballklub alles und die Geschichte ihrer Heimatstadt gar nichts bedeutet. Was können sie schon wissen, wenn sich weder die Schulen noch die Kommune für das Andenken der ermordeten Mitbürger zuständig fühlen? Und wenn selbst die ersten Plakate, die für die designierte „Kulturhauptstadt Europas 1997“ werben, a-semitisch bleiben in ihrem Stolz auf die vielfältigen kulturellen Traditionen – auf das antike Griechenland, die römische Epoche, das Byzantinische Reich, die osmanische Herrschaft. Nur das jüdische Thessaloniki fehlt. Ist eine Kultur, die die Nazis 1943 zu liquidieren glaubten, für die europäische Kulturhauptstadt 1997 nicht mehr des Erinnerns wert?

Das Neue Testament bezeugt, daß Thessaloniki schon seit der Antike eine graecophone jüdische Gemeinde hatte. Die überlebte den Bekehrungseifer des „Apostels Paulus“, die Missionierungsversuche byzantinischer Kaiser, die Diskriminierung und Verfolgung durch die katholischen Venetianer. 1430 wurde die verarmte und ausgeblutete Stadt von Sultan Murad II. erobert. Die osmanischen Herrscher beendeten die Diskriminierung der Juden und gaben ihnen die gleichen Rechte wie den christlichen Untertanen.

Das sprach sich rasch bis Mitteleuropa herum, wo die mosaische Minderheit seit dem 14. Jahrhundert blutig verfolgt wurde, als Sündenbock für Pestepidemien. „Mache dich auf, Volk Israels, und verlasse den verfluchten Boden für immer“, hieß es in einem Aufruf des Rabbi Itzaak Zarfati, der seine Glaubensbrüder- und schwestern in deutschen und ungarischen Landen einlud, die christliche Herrschaft gegen die muslimische einzutauschen. Aus Bayern geflüchtete Juden gründeten 1470 die erste aschkenasische (jiddisch-sprachige) Gemeinde. Prägend für die Stadtentwicklung wurde jedoch die Einwanderung sephardischer Juden, die 1492 mit ihrer Vertreibung aus der Iberischen Halbinsel einsetzte. 1553 lebten in Thessaloniki bereits 20.000 Juden aus Spanien, Portugal und Italien. Sie organisierten sich nach Herkunftsorten um die jeweils eigene Synagoge. Angelegenheiten wie das Aufbringen der Steuern für die osmanische Obrigkeit wurden durch einen gemeinsamen Ausschuß geregelt.

Die religiösen und wissenschaftlichen Einrichtungen der sephardischen Juden ließen Thessaloniki zu einem herausragenden geistigen Zentrum werden. Als Umgangssprache setzte sich in diesem „Jerusalem des Balkans“ das Ladino oder „Judenspanisch“ durch, doch auch die Sepharden italienischer Herkunft hielten an ihrer Muttersprache fest. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Französische zum vorherrschenden Bildungsidiom, das neben dem Ladino die in Thessaloniki verlegten Zeitungen dominierte. Und da sich die nichtjüdische Bevölkerung nicht nur aus Griechen und Türken, sondern auch aus Bulgaren, Vlachen und anderen Minderheiten zusammensetzte, bewunderten die europäischen Besucher das „alte Salonica“ als wahrhaft polyglotte Metropole.

Die Blütezeit der jüdischen Gemeinde waren die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. In der Auflösungsphase des osmanischen Reiches wurden die Sepharden zum Träger einer westlichen Modernisierung, die von einer unbändigen ökonomischen Dynamik angetrieben wurde. Seit 1880 war Thessaloniki an das europäischen Eisenbahnnetz angebunden, 1889 war der neue Hafen fertig. Er machte die Stadt zum Handelskontor und Bankenplatz für die gesamte Balkanregion. Die Industrie profitierte von einem aufblühenden Bildungswesen, wobei die von der Alliance Israélite Universelle (A.I.U.) gegründeten Schulen mit ihren modernen Lehrprogrammen auch nichtjüdischen Schülern offenstanden. Hauptmäzen der A.I.U. war der aus Bayern stammende Baron Moritz Hirsch, der als Generalunternehmer des osmanischen Eisenbahnnetzes (daher in ganz Europa als „Türkenhirsch“ bekannt) an der Entwicklung der Region besonders großen Anteil hatte.

Die herausragende Rolle der jüdischen Bürger von Thessaloniki beruhte nicht nur auf ihrer schieren Zahl von 75.000, die gut die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachte. Sie repräsentierten auch das gesamte soziale Spektrum: vom Bankier und Kaufmann über den Handwerker und Wasserverkäufer bis zum Tabak- und Hafenarbeiter. Deshalb waren sie in allen politischen Bewegungen und Lagern vertreten. Die ersten Gewerkschaften der Tabak- und der Hafenarbeiter zum Beispiel gehen auf die Initiative jüdischer Proletarier zurück.

Diese „absolut einmaligen Bedingungen“ – so die Historikerin Rena Molho – hatten es den Juden von Thessaloniki aufgrund einer ungehinderten Entwicklung von 700 Jahren ermöglicht, einen „entscheidenden Beitrag zum Überleben und zum Wohlergehen ihrer Stadt zu leisten“. Die von unserem A.I.U.-Korrespondenten registrierten paradiesischen Zustände beruhten also auf der Tatsache, daß die nichtjüdischen Bewohner auf die größte Bevölkerungsgruppe einfach angewiesen waren, als Produzenten und Händler wie auch als Konsumenten.

Die ökonomische Zukunft Thessalonikis war freilich nicht ungefährdet, hing sie doch fast völlig von der handelsgeographischen Bedeutung des Hafens ab. Die Ablösung des osmanischen Reiches durch rivalisierende Nationalstaaten war für die stärkste Bevölkerungsgruppe deshalb eine bedrohliche Perspektive. Kein Wunder, daß führende Kreise der Sepharden nach der Jahrhundertwende für die Idee einer „Internationalisierung“ Thessalonikis empfänglich waren, die vornehmlich von österreichischer Seite propagiert wurde. Als die Stadt im ersten Balkankrieg 1912 dem Königreich Griechenland zufiel, waren die meisten Juden alles andere als begeistert. Umgekehrt waren sie in den Augen der Griechen das größte Hindernis für eine rasche Hellenisierung der mazedonischen Metropole.

Obwohl die griechische Regierung die Besorgnisse der Juden zunächst beschwichtigen konnte, verschärften sich die Konflikte um die politische und gesellschaftliche Vorherrschaft. Im Mittelpunkt stand die Regelung der gesetzlichen Feiertage. Sie wurde erst 1920 zugunsten des Sonntags entschieden; im Hafen wurde der Sabbat sogar noch bis 1923 eingehalten. Damit standen jüdische Geschäftsleute vor der Alternative, zwei Tagen pro Woche zu schließen oder ihre religiösen Bräuche aufzugeben. Viele wichen dem Dilemma aus, indem sie emigrierten, die meisten nach Paris.

Die Auszehrung der jüdischen Gemeinde hatte freilich schon mit der apokalyptischen Feuersbrunst vom Sommer 1917 begonnen, die zwei Drittel der Innenstadt und drei Viertel der jüdischen Wohngebiete zerstörte. Sechs Jahre später folgte der entscheidende Einschnitt – die griechischen Niederlage im Kleinasienfeldzug. Der Sieg der kemalistischen Türkei und der im Lausanner Vertrag geregelte griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch brachte 100.000 Flüchtlinge von den Küsten der Ägäis und des Schwarzen Meeres in die Stadt. Auf einen Schlag wurden die Griechen damit zur weitaus stärksten Bevölkerungsgruppe.

Die häufig aus wohlhabenden Verhältnissenen gerissenen Neuankömmlinge wurden zu natürlichen Rivalen alteingessesener Juden, die ihr Haus und Gut durch das Feuer verloren hatten. Beide Gruppen konkurrierten vor allem um die Wohnquartiere, die jetzt am Rande des Zentrums errichtet wurden. Nachdem die faschistischen Schlägerbanden der EEE (Nationale Vereinigung Griechenlands) zu antisemitischen Ausschreitungen aufgestachelt hatten, wurde 1931 das jüdischen Campbell-Viertel von einem Mob niedergebrannt.

Dieses Pogrom und das 1932 verabschiedete Verbot des Volksschulunterrichts in nichtgriechischer Sprache ließen Tausende jüdischer Einwohner emigrieren. Erstmals war auch Palästina das Ziel. Insgesamt kehrten zwischen 1912 und 1935 fast 40.000 Juden Thessaloniki den Rücken. Der jüdische Bevölkerungsanteil war damit binnen eines knappen Vierteljahrhunderts von über 50 auf unter 20 Prozent zurückgegangen.

Die demographische Entwicklung drückte auch auf ein Gelände, das für die Juden viel mehr als nur symbolische Bedeutung hatte. Ihr 450 Jahre alter Friedhof lag unmittelbar östlich der Byzantinischen Mauer. Das riesige Areal schob sich wie ein Sperriegel zwischen Innenstadt und neue Wohngebiete. Es war umringt von den Siedlungen der Kleinasienflüchtlinge, denen die 300.000 alten, historisch wertvollen Grabsteine als kostenloses Baumaterial ins Auge stachen. Um diese auch nachts zu bewachen, hatte die griechische Regierung 1928 auf dem Gelände noch eine Polizeistation errichtet.

Einen Teil des Areals, der für die neue Universität beansprucht wurde, trat die Gemeinde ab. Die Rückzugsgefechte gegen Stadtplaner und Bauspekulanten machten ihr klar, daß zwischen den Bedürfnissen einer explodierenden Stadtentwicklung und dem Respekt vor der jahrhundertealten Nekropole ein „historischer Kompromiß“ gefunden werden mußte. Der wurde entbehrlich, als am 4. April 1941 die Wehrmacht einmarschierte. Kurz darauf befanden die Planer der „Endlösung“, daß die Juden von Thessaloniki nie mehr einen Friedhof brauchen würden.

Die Enteignung des Geländes wurde Ende 1942 vollzogen, mit Geschick und Tücke, aber juristisch einwandfrei. Maximilian Merten, Chef der deutschen Zivilverwaltung, bot der jüdischen Gemeinde an, ihre Zwangsarbeiter freizukaufen. Die geforderte Summe überstieg die Möglichkeiten der Gemeinde bei weitem, doch Merten gab sich großzügig: Den Rest könne man durch den Verkauf des Friedhofsgeländes an die Stadtverwaltung finanzieren. Der Rabbiner Michael Molho, der die Verhandlungen miterlebt hat, gewann den Eindruck, daß der Friedhof den Juden auf Betreiben der griechischen Kollaborateursverwaltung abgepreßt wurde.

Am 6. Dezember 1942 beginnen Baukolonnen, die ersten Grabmale herauszureißen. Das Zeugnis jahrhundertelanger jüdischer Präsenz war binnen weniger Tage ausgelöscht. Einen Teil der Steine zweigt die Besatzungsmacht ab; aus ihnen wird zum Vergnügen der höheren Wehrmachtsränge ein Schwimmbecken gebaut.

Im Februar 1943 läuft dann das rassistische Programm der Demütigung an: Den jüdischen Bürgern wird in ihrer eigenen Stadt verboten, im Café zu sitzen, Straßenbahn zu fahren, Radio zu hören, zu telefonieren. Dann werden ihre Geschäfte gekennzeichnet und die gelben Sterne ausgegeben. Zwei pro Person, 10 cm groß, anzubringen „auf der linken Brustseite in Herzgegend auf dem obersten Kleidungsstück“. Am 23. Februar 1943 werden für die Juden von Thessaloniki Ghettos eingerichtet – zum ersten Mal in ihrer Geschichte.

Am Ende landen alle in dem Ghetto, das hinter einem Bretterzaun direkt am Bahnhof entsteht. Von dort werden sie in ihren neuen Staat nach Polen fahren, sagen die deutschen Bewacher. Man händigt ihnen sogar Banknoten des sagenhaften Judenreiches aus. Die Fahrkarten gibt es korrekterweise zum verbilligten Gruppentarif. Auf den Kontrollmarken steht: „Nur gültig in Verbindung mit dem Beförderungsschein, also ungültig, wenn der Inhaber sich von der Gesellschaft trennt und einen anderen Zug benutzt.“

Erst als sie die Güterwaggons sehen, wird den meisten klar, daß die Fahrt in die Hölle geht. Bis Mitte Mai fahren siebzehn Sonderzüge nach Auschwitz, acht Tage und acht Nächte ist jeder unterwegs. Am 1. Juni meldet das Nazi- Fachblatt „Die Judenfrage“: „Die Zahl der heute noch in Griechenland lebenden Juden ist inzwischen stark zurückgegangen.“

Der Süden Griechenlands war bis September 1943 italienische Besatzungszone. Hier waren die Juden unbehelligt geblieben, bis nach der Machtübernahme der Badoglio-Regierung die Wehrmacht die Italiener auch im Süden ablöste. Freilich hatten die griechischen Juden im Süden auch jetzt noch deutlich bessere Chancen, dem Schleppnetz des Eichmann-Stabes zu entkommen.

Alarmiert durch orthodoxe Bischöfe, prominente Intellektuelle und die Organisationen des Widerstandes, hat die Bevölkerung ihre jüdischen Mitbürger auf großartige Weise beschützt und versteckt. In einer Petition forderten 29 Verbände und Vereinigungen im März 1943 von der Athener Kollaborationsregierung, den Abtransport der griechischen Juden zu verhindern, da es sich um eine „ungerechte und ethisch unannehmbare Aktion“ handle. Es ist eines der wichtigsten Dokumente der Menschlichkeit, das uns aus der Ära der „Neuordnung Europas“ überliefert ist.

Auch die griechische Exilregierung in Kairo rief über den BBC die Bevölkerung auf, ihren jüdischen Mitbürgern mit allen Mitteln zu helfen. Von den Athener Juden wurden etwa 8.000 von orthodoxen Familien aufgenommen – obwohl jedem Christen, der einen Juden versteckte, die Todesstrafe drohte.

Für die Juden von Thessaloniki war es längst zu spät. Ihr Abtransport wurde auch durch die eigene Gemeindeführung erleichtert, deren naives Vertrauen in die Versprechen der Deutschen für die Überlebenden noch heute ein schmerzhaftes und umstrittenes Thema darstellt. Anathema ist eine andere Frage: Ob womöglich die Tatsache, daß die „Endlösung der Judenfrage“ in Thessaloniki so reibungslos abgewickelt wurde, auch etwas über die Haltung der griechischen Nachbarn aussagt. 1943 hatte Merten den Gemeindevertretern weismachen wollen, viele Griechen hätten in Telegrammen nach Berlin gefordert, die Juden aus Thessaloniki zu vertreiben. Das war nachweislich gelogen. Andererseits heißt es in dem Bericht, den ein jüdischer Zeuge für den britischen Geheimdienst anfertigte, die Athener hätten gegenüber „ihren“ Juden mehr humanitäres Engagement gezeigt als ihre Landsleute in Thessaloniki.

Das ist zu hart und zu pauschal, und doch verweist es auf einen wunden Punkt: Es gab in Thessaloniki eine ganze Menge Leute, die von der Deportation der Juden profitierten. Die herrenlosen Geschäfte und Immobilien sollten zunächst von einem Ausschuß an „Treuhänder“ verteilt werden. Offiziell waren dabei die griechischen Flüchtlinge zu bevorzugen, die ihr Hab und Gut in der bulgarischen Besatzungszone in Ostmazedonien und Thrazien zurückgelassen hatten. Tatsächlich ging der jüdische Besitz vorwiegend an griechische Kollaborateure.

Natürlich haben sich die Quislinge in vielen okkupierten Ländern in ähnlicher Weise bereichert. In Thessaloniki jedoch konnten sie mit ihrer Beute entkommen – im Schutze der politischen Dunkelheit, die nach 1945 mit dem Bürgerkrieg hereinbrach. 1946 wurde zwar per Gesetz beschlossen, die Transaktionen von 1943 wieder rückgängig zu machen. Aber die Endlösungsprofiteure konnten die Durchführung des Gesetzes torpedieren. So kam es, daß nur wenige der Überlebenden von Auschwitz bei ihrer Rückkehr nach Thessaloniki von den alten Nachbarn freudig begrüßt wurden. Und daß es keinem von ihnen gelungen ist, einen „Treuhänder“ aus einem von den Deutschen übereigneten Haus oder Laden wieder hinauszuschaffen. In einer Zeit, da sich viele Kollaborateure durch ihren Antikommunismus moralisch sanieren konnten, war keine Regierung daran interessiert, das heiße Eisen noch einmal zum Glühen zu bringen.

Außerdem hätte die Eigentumsfrage auch das Thema des jüdischen Friedhofes aus dem Tiefschlaf geweckt. Die Tatsache, daß heute auf diesem Gelände eine Universität steht, ist Ergebnis der deutschen Okkupation – der Erpressung und Ausplünderung der jüdischen Gemeinde durch die Nazis, die nur die unmittelbare Vorstufe des Holocaust war. Natürlich kann man das heute keiner griechischen Instanz zum Vorwurf machen. Und der Anspruch auf das Friedhofsgelände steht nicht einmal mehr für die jüdische Gemeinde zur Debatte. Aber warum findet sich auf dem gesamten Universitätsareal nicht ein einziger Hinweis auf die Geschichte des Geländes? Oder gar ein Denkmal, das an die verschleppten und ermordeten Mitbürger erinnert? An Bürger von Thessaloniki, die ohne die deutsche Okkupation nicht in den Aschetümpeln von Birkenau verlöscht, sondern auf ihrem Friedhof bestattet worden wären?

Diese Frage wurde in Thessaloniki 50 Jahre lang nicht aufgeworfen. Wenn jemand sie dennoch stellte, klang die Antwort böse, mindestens gereizt. Erst im Jahre 1995 scheint das Thema nicht mehr unantastbar zu sein, gibt es Leute, die das a-semitische Geschichtsbild nicht mehr hinnehmen wollen. Ein wichtiger Anstoß war die unglaubliche Haltung des offiziellen Griechenland zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bei der Feier in Polen waren weder die Stadt Thessaloniki noch die Athener Regierung vertreten. Der Grund: Auch das ehemals jugoslawische Mazedonien, das Griechenland damals wegen des Streits um den Staatsnamen nicht anerkannte, war eingeladen – bekanntlich hatte die Endlösung zwischen den Juden von Skopje und denen von Thessaloniki keinen Unterschied gemacht. Immerhin wurde diese entsetzliche Nationalisierung des Auschwitz-Gedenkens von einem Teil der griechischen Presse sehr bitter kritisiert.

Die Regierung hatte damit – gegen ihren Willen – eine Diskussion angestoßen, die auch den jüdischen Anteil an der Geschichte der Stadt Thessaloniki wieder gegenwärtig macht. In jüngster Zeit haben zwei Zeitschriften – Synchrona Themata und Paratiritis – der Geschichte der griechischen Juden ein Schwerpunktheft gewidmet. Der Regisseur Costa-Gavras plant einen Film über das Schicksal der griechischen Juden unter deutscher Besatzung. Und aus dem Etat für das Festprogramm 1997 soll auch die Gründung eines schon lange geplanten Jüdischen Museums gefördert werden. Die Anzeichen mehren sich, daß „Europas Kulturhauptstadt 1997“ das jüdische Thessaloniki nicht mehr ignoriert, sondern selbstbewußt als Teil einer einzigartigen multikulturellen Geschichte präsentiert.

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