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Und alle brüllten: Ostwärts, hüh!

Es gab eine Zeit, da schwankten deutsche Siedler mit Fleiß und Durst gen Osten  ■ Von Rüdiger Kind

In einer idyllischen Ecke Süddeutschlands, im heutigen Mischbesiedlungsgebiet von Schwaben und Franken, dort, wo Murr und Kinzig mit munterem Wellenspiel die Erholungsuchenden entzücken, herrschte vor 150 Jahren große Not. Die Menschen reckten die Köpfe, um aus der Enge und Bedrücktheit ihres Daseins zu entfliehen, den kargen Böden und der Zinsknechtschaft ade zu sagen und den Becher des Lebens wieder randvoll aufzufüllen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis ein kleines, holpriges Lied von Mund zu Mund ging:

Jetzund ist es ausgemacht,

daß der Marsch geht nach dem

Osten;

man hat es herausgebracht,

daß dort man darf frei mosten.

Drum tretet eure Reise an

in das russisch Kanaan!

Was heute einigermaßen verwunderlich erscheint: Damals richteten sich die Blicke und Sehnsüchte unserer Altvorderen keineswegs nur nach dem Westen, nach Amerika. Das Land der Verheißung lag vielmehr im russischen Zarenreich. Auch klingt in dem Lied schon leise an, was diesen Stamm aufrechter Deutscher zum Verlassen ihrer heimatlichen Scholle bewegte: das von der Obrigkeit hierzulande verwehrte, dort aber unbeschränkt gewährte Recht auf die Herstellung alkoholischer Getränke. Ein starker Grund fürwahr und Grund genug für eine weitere Strophe:

Allhier ist es nimmer gut,

dorten ist es besser,

fasset einen guten Mut!

Dort gibt's volle Fässer.

Bei dem Bier und Brandenwein

kann man auch vergnüget sein.

Das Lied tat seine Wirkung. Weinselige Schwaben und bierfreudige Franken, Pichelbrüder und Zechkumpane, Schluckspechte und Schnapsdrosseln sonder Zahl packten ihre Siebenfässer, und schon hieß es: ostwärts, hüh!

Lang und beschwerlich war die Reise ins russische Kanaan, doch im Frühsommer des Jahres 1844 langten die Neusiedler in ihrer neuen Heimat an. Die russische Zarin Katharina war den Neuankömmlingen sehr zugetan und gab ihnen Land am Oberlauf der Wolga, wie der Zufall so spielte, unweit der Distrikthauptstadt Wodkagrad.

Der Zarin Hoffnung, die Kulturarbeit der Deutschen möge der unwissenden russischen Landbevölkerung Vorbild und Ansporn sein, sollte sich nur allzu bald erfüllen. Bald waren die ersten Häuser errichtet und die Felder bestellt. Schwere, schwarze, fruchtbare Lehmböden waren es, auf denen der deutsche Ackermann die hohe Schule der Dreifelderwirtschaft zelebrierte. Hopfen, Gerste und Roggen waren die vornehmsten Feldfrüchte, unverzichtbare Grundmaterialien für die Weiterverarbeitung in den allerorten aus dem Boden schießenden Brau- und Sudhäusern, Destillerien und Brennereien. Natürlich durfte auch die Kartoffel nicht fehlen, die „Zitrone des Nordens“, von der die ortsansässige Bevölkerung erst durch die Deutschen so richtig Wind bekam.

Kamen die nahrhaften Knollen anfangs noch in dampfenden Schüsseln auf den Tisch, so landeten sie bald in den Gärkesseln der „Ersten Original Krumbieren- Brennerei“ zu Kasimir, wo sie zu einem trefflich mundenden, magenmilden Getränk verarbeitet wurden, dessen Ruf sich in Windeseile seinen Weg durch die unermeßliche Weite Rußlands bahnte.

Deutscher Gewerbefleiß ließ das Handwerk aufblühen – Küfer, Brauer, Glasbläser und Korkenzieher hatten Hochkonjunktur. Es war ein fleißiges, aber auch lustiges Völkchen, das sich an der Wolga hellem Strande zusammengefunden hatte. Alexander Smirnoff, als Reiterhauptmann der legendären Don-Konjaken selbst kein Kostverächter, beschreibt in seinen Erinnerungen die unermüdliche Kulturarbeit der Deutschen: „In den Schränken der Schwanken, wie die Neuankömmlinge ihres allzeit schwankenden Schritts wegen allhier genannt werden, herrscht große Reinlichkeit und Zucht. Aber auch unbeschreiblicher Lärm kommt von den unablässig heranrollenden Fässern, aus denen ein gar köstlich Gebräu in die irdenen Krüge rinnt. Bestellt man dort einen Krug, so bekommt man unweigerlich, meist mit der Begründung, auf einem Beine stehe man schlecht, Stücker zween aufgetischt. Und dabei bleibt es nie, denn, so die stehende Redensart der Schwanken, ,hast du schon einmal einen Tisch mit zwei Beinen gesehen‘? Ein Argument, dem auch ich mich nur selten verschließen konnte.“

In diesem Text des offenkundig ebenso sattel- wie trinkfesten Haudegens Smirnoff taucht übrigens zum erstenmal die mittlerweile eingebürgerte Sammelbezeichnung „Schwanken“ für diesen deutschen Stamm auf. Folgen wir dieser und anderen Quellen, dann fand das erste seinen Namen verdienende deutsche Wirtschaftswunder jenseits von Oder und Neiße statt. Und so konnte es kaum ausbleiben, daß zwischen „Gast- und Wirtsvolk“, wie Bertram Vogtländer, der Vorsitzende des Interessenverbandes „Schwankenland“, das Verhältnis zwischen Schwanken und Russen einmal in Weinlaune bezeichnete, ein reger kultureller Austausch sich entwickelte.

Zeitgenössische Quellen sprechen von unverbrüchlicher „Pichelbrüderschaft“ der beiden Volkskörper, Mischehen waren nicht mehr aufzuhalten – bis ein zaristisches Brau- und Brennverbot dem munteren Treiben ein jähes Ende bereitete. Mehr noch, unter der Willkürherrschaft Alexander I. wurden die Schwanken in die entlegensten Teile des Riesenreiches zwangsumgesiedelt. Fern ihrer angestammten Braustätten verdunstete rasch schwankentypisches Brauchtum.

Heute ist das Interesse an diesem sympathischen Stamm wieder erwacht. Allerdings ist er nur noch im Promillebereich nachweisbar. Eine große Aufgabe für heutige und kommende Generationen wird sein, die verschütteten Traditionen des zwischen den Mühlsteinen der Geschichte zerriebenen lustigen Völkchens wiederzubeleben.

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