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Mit flauschiger Frauenliebe

Zwei Reisende: Retrospektiven mit Filmen von Ulrike Ottinger und Chris Marker auf Tour  ■ Von Mariam Niroumand

Gold, Liebe und Abenteuer werden in Ulrike Ottingers „Madame X“ von 1977 den Frauen versprochen, die den Ruf hören und aufbrechen aus ihren armen Leben ins chinesische Meer, auf die Dschunke der grausamen und dennoch irgendwie romantischen Herrscherin Madame X. Gedreht wurde auf dem Bodensee. Geldgeber: ZDF. Mit: Tabea Blumenschein, der amerikanischen Avantgardefilmerin Yvonne Rainer als Josephine de Collage, Irena von Lichtenstein als Blow-up und – unter vielen anderen – Ulrike Ottinger als Orlando. Ihn liebte die grausame Herrscherin einst mit echter flauschiger Frauenliebe, aber ach: Eines Tages sah Orlando aufs Meer hinaus, erblickte eine hübsche Blume, stürzte von Bord und bemerkte viel zu spät, daß es sich bei dem schillernd-rosafarbenen Geschlinge und Gewinde um eine gefährliche Qualle handelte, die ihn alsbald mit Haut und Haaren verschlang.

Habe ich „ihn“ gesagt? Das weiß man natürlich nicht so genau, und die Filmkritiken der damaligen Zeit machen um diese Ungewißheit naturgemäß ein Riesen- Bruhaha. Denken Sie nur: ungewissen Geschlechts! Männer, Frauen – alles Konstrukte! Morgens angezogen, mittags abgelegt! Seitenlange Beiträge in den damals hippen Publikationen debattierten, ob die stählerne Figur der grausamen Herrscherin vorn am Bug des Schiffes eine Allegorie sei oder vielleicht doch eher als realistische Verkörperung der „unzähligen Möglichkeiten und Szenarien weiblichen Begehrens“.

Plötzlich neues Wetterleuchten

Daß Ottingers Filme unter diesem ganzen Quatsch nicht begraben wurden, sondern heute auf seltsame Weise wieder ein neues Wetterleuchten von sich geben, ist schon verblüffend. Es liegt aber wohl daran, daß man dieser Tage unverblümter wieder dem Materialreichtum, der Eleganz und auch der Genrefestigkeit begegnet, die im Spiel waren, als „Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse“ (1984) oder der enzyklopädische „Freak Orlando“ (1981) entstanden.

So ist „Madame X“ ein Piratenfilm mit schöner Frau und tragischer Sage im Hintergrund, ganz wie es sich gehört. Hinzukommen ein Belcanto-Sänger als Gast, eine mit den Augen rollende, barbusige Südseeschönheit, erste ernste Lederlesben, gezückte Schwerter und riesige Fischleiber, die von einer Gruppe aus Förstersgattin, italienischem Pornostar oder einer Raumfahrtenthusiastin mit silbernem Metallschwanz in Windeseile verzehrt werden. Der Himmel ist so technicolorblau wie in „Die glorreichen Sieben“, und ähnlich schwerwiegend auch der Gestus, wenn es nicht alles zugleich auch immer so lustig wäre. Gemeinsam befahren sie die sieben Meere, solange der Wind ihnen günstig ist (und das ist nicht sehr lang). Die Geschichte ist auch ein Märchen: Madame X hat eine behaarte Brust, das darf nur der Narr wissen und die Südseeschöne. Als die Försterin es sieht, muß sie sterben.

Einige Lesben, so berichtete Ottinger in einem Interview, mochten den Film damals nicht; zuviel Streit zwischen den Protagonistinnen, zuviel Machtgespreize, zuviel „Sexismus“ – schließlich zieht man doch aus, um was Besseres als den Tod zu finden. Noch heute übrigens treffen lesbische SM-Pornos auf ähnliche Ressentiments; aber daß es sie jetzt gibt, hängt nicht zuletzt wohl auch mit Ottingers unangestrengter Lederpräsentation zusammen. Der „Frauenfilm“ der siebziger Jahre mit seinem angestrengten Kampf um Identität ist tot, aber Märchen leben ewig. Fabelwesen wie die Blumenschein müssen sich nicht so abstrampeln, daß man ihnen, wenn der Kampf vorbei ist, nicht mehr zusehen mag.

Daß sie schließlich, sobald ihr das irgend möglich war, auch wirklich in der Ferne drehte, hat keinen der Zuschauer von „Madame X“ gewundert. „China, die Künste – der Alltag“ (1985) hieß ein viereinhalbstündiger Reisefilm, bei dem beispielsweise beobachtet wird, wie Angestellte einer Apotheke in blitzschnellen, eleganten Würfen Kräuter und Essenzen auf Papiere schleudern, die später zu kleinen Päckchen verschnürt werden. Unter Ottingers begeisterten Blicken werden alle Kulturtechniken zu Zirkusnummern; sie ist nicht auf der Suche nach dem chinesischen Wesen, sondern will nicht weiter als bis zur schillernden Oberfläche der Fremde dringen. Nach einem kurzen Intermezzo über den Stolz („Superbia“, 1986) stieß Ottinger dann in die Mongolei vor: tat ihre ganze Entourage, von Delphine Seyrig über Irm Hermann bis hin zu Peter Kern (als jiddelnder Mickey Katz) in die Transsibirische, und ließ sie, in der Mongolei angekommen, von einer lokalen Prinzessin und ihren Reiterinnen entführen („Johanna d'Arc of Mongolia“, 1988).

Kulturtechniken als Zirkusnummer

Ottinger wäre auch gern Ethnologin geworden; der französische Filmemacher Chris Marker ist auf seine jenseitige Weise immer einer geblieben. Daß er nie so berühmt wurde wie sein Freund und Kollaborateur Alain Resnais hängt nicht nur damit zusammen, daß er nie Spielfilme gedreht hat, sondern ein eigenes Genre (das im Grunde nur seinen Namen tragen kann: Ein Marker-Film ist ein Marker-Film). Es hängt auch damit zusammen, daß er mit dem Obskurantismus liebäugelt. Kaum jemand weiß, wie er wirklich heißt, er gibt niemals Interviews, es existieren nur sehr wenige Fotos von ihm, und er war nur ein einziges Mal ausschnittweise im Film zu sehen: In Wim Wenders „Tokyo-Ga“ sieht man in einem Restaurant der Stadt sein Auge. Mehrere Leute fanden, er habe schlagende Ähnlichkeit mit dem Extraterrestrischen, der in Robert Wises „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ befremdet aber freundlich unseren Planeten betritt.

Ein bißchen hat man den Eindruck, dieser E.T. schicke sich mit seinen Filmen immer selbst Postkarten, deren Eigenart ja auch das Passagere, etwas Unpersönliche, Heimatlose und dennoch Verbundene ist. Und natürlich der Enthusiasmus: Marker sieht eine Hutkrempe oder einen Obststand, einen Treppenabsatz oder eine Gruppe von Fischern, wie ein

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Verliebter, der heimlich die Handtasche der Angebeteten durchstöbert. Daß Marker Buñuels „Andalusischen Hund“ für einen Dokumentarfilm hält, bezeichnet auch seine Arbeitsweise: Sein „Brief aus Sibirien“ (1958) kann einem an mineraliserten Bäumen und bestimmten Flußverläufen, aber auch an sowjetischen Comicstrips und Animationen klarmachen, warum man sich dort fühlt „wie im Mittelalter und im 21. Jahrhundert gleichzeitig“.

„Le Joli Mai“ (Der schöne Monat Mai) hat Marker 1962 in seiner Heimatstadt Paris gedreht, am Ende des Algerienkriegs, und gute zwanzig Minuten der zweidreiviertel Stunden verbringt er mit einem Kleiderverkäufer aus Le Sentier, den er gefragt hat, ob er glücklich sei, und mit dem er sehr detailliert über die Textilpreise, die Frühstücksgewohnheiten, das neue Fernsehen oder die Oper redet, in die man nicht so recht kommt. Kluge hätte es gemocht. Marker, der lange Zeit Lektor beim Verlagshaus Edition du Seuil gewesen war, stand in lockerer Verbindung zur „Rive gauche“, einer Gruppe von Filmemachern, die sich von der um Chabrol oder Truffaut dadurch unterschied, daß das Kino kein Zentrum ihrer Produktion oder ihres Denkens abgab. Die meisten von ihnen, Duras, Marker, Resnais oder Robbe-Grillet waren Literaten, mit bestimmten politischen Anliegen.

Daß während dieser Zeit alles „Cinema Verité“ sein sollte, hat Marker nicht davon abgehalten, Poet zu bleiben: Die Fragen, die er den Leuten stellt, sind umwegig;die scheuen Blicke auf die Skulpturen ringsum (später hieß ein Film „Auch Skulpturen sterben“), und vor allem sein Markenzeichen – die Katzen –, das alles ließ sich nicht kerzengerade unter ein Thema subsumieren.

So. Das ist ja sehr schön!

Niemand kann so recht erklären, wie Marker im selben Jahr „La Jetée“ (Am Rande des Rollfeldes) drehen konnte, ein Science-fiction, der bis auf eine einzige Aufnahme mit bewegten Bildern nur Standfotos enthält. Es ist zugleich der einzige Film Markers, der etwas wie eine Geschichte erzählt. Eine fremde Macht hat nach dem Atomkrieg das untergegangene Paris besetzt und führt an seinen Bewohnern elektrische Hypnose- Experimente durch, bei denen diese Zeitreisen antreten. Wir sehen die Erlebnisse eines Mannes: ein Rollfeld bei Orly, aus dem Off erzählt er, wie er dort mit seinen Eltern stand, als ein Mann umkam. Ein Mädchen taucht auf. Durch die Katakomben von Paris gehen wie im „Dritten Mann“ Menschen mit weit aufgerissenen Panikaugen: ein sanfter Alptraum. Aus dem Off hört man die Experimentatoren flüstern; sie sprechen Deutsch: „So. Das ist ja sehr schön. Da ist ja das Mädchen!“ Als der Mann in seinem Elektro-Traum auf das Mädchen zugehen will, streckt ihn etwas zu Boden; er träumt seinen Tod.

Die Idee mit den Standfotos wirkt nicht so unfilmisch, wie es zunächst klingt; vielmehr illustriert sie Markers Punkt, daß es visuell keinen Unterschied zwischen irgendeinem beliebigen Bild und den eigenen Erinnerungen gibt.

Das ist es auch, was seine essayistischen Reisefilme so berühmt gemacht hat: Israel, „Beschreibung eines Kampfes“ (1960); „Cubasi“ (1961); oder der wirklich bezaubernde „Das Mysterium Koumiko“ (1965), Portrait der Sekretärin Koumiko, einer Frau aus der Mandschurei, die am Franco-Japanischen Institut arbeitete, Truffaut liebt, hypergalante Franzosen nicht ausstehen kann und absolut aparte Hüte trägt, und die Marker während der olympischen Spiele traf – um sie herum Tokio. Wie Postkarten wirken auch diese Aufnahmen, weil sie zwar Markers Erinnerungen darstellen, die aber von fremder Leute Bilder transportiert werden. In „Sans Soleil“ (1983), Markers zu Recht berühmtester Film, ist dieses Verfahren auf seinem Höhepunkt angelangt. Er selbst hat es mit dem Spielen einer bestimmten indischen Flöte verbunden, deren Ton niemand hört, als der Spieler selbst.

Retrospektive Ulrike Ottinger: ab 11. 10. in Berlin und Hamburg

Retrospektive Chris Marker: seit 1. 10. in Rostock, Hannover, Bremen, Frankfurt/Main und München.

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