Aus Rot-Grün gelernt?: Am Ende gilt das Viehmarktprinzip
■ taz-Serie zu 1989: Wolfgang Wieland zum Nachhall des kurzen Sommers der Anarchie
Wolfgang Wieland ist Rechtsanwalt und Fraktionsvorsitzender von Bündnis90/Grüne.
Es ist Wahlkampf, und kaum einer merkt es. Fünf Jahre Große Koalition lasten auf der Stadt, und immer noch erklingt er nicht, der Ruf nach Rot-Grün. Ist dies nur eine Folge des vielbeschworenen Mehltaus, der Entpolitisierung durch eine Große Koalition?
Ich fürchte, es wirkt auch nach, was vom ersten Probelauf im Gedächtnis geblieben ist, vom kurzem Frühsommer rot-grüner Anarchie: Dauerzank, Entscheidungen im Morgengrauen mit beschränktem Haltbarkeitsdatum bis zur nächsten MVV, das Feminat im Schaufenster und dahinter König Momper und sein Küchenkabinett. Nach dem heftigen Ende im Pulverdampf der Mainzer Straße hat es niemals so etwas wie eine Aufbereitung dieser eineinhalb Jahre gegeben, nicht bei der SPD und nicht bei uns. Wenn jetzt ausgerechnet die Falschen – Momper und Nagel – den richtigen Wahlkampf führen und die Richtigen – Stahmer und Böger – den falschen, liegt dies auch im Begraben und Tabuisieren der gemeinsamen Erfahrungen. Deswegen, und nur deswegen, mutet das Folgende recht theoretisch an:
1) Es wird auf beiden Seiten bei Koalitionsverhandlungen keine Essentials und keine Knackpunkte geben. Alles ist verhandelbar. Sowenig am Ende Grün pur stehen kann, kann die SPD erwarten, die falsche Senatspolitik nur mit anderem Partner fortsetzen zu können.
2) Das Ergebnis, die Koalitionsvereinbarung, muß so präzise formuliert sein, daß sie vollstreckbar ist. Keine Prüfaufträge, kein Zeitfenster, keine Lyrik und keine Absichtserklärungen, sondern mit schlichten Worten, was geschieht und was unterbliebt. Ohne eine solche Klarheit ist Dauerstreit vorprogrammiert.
3) Die nicht im Konsens zu lösenden Streitfragen sind zum Ende der Beratungen aufzulisten. Dann gilt das Viehmarktmodell. Im Verhältnis der – am Wahlabend feststehenden – Stärke der PartnerInnen werden Siege und Niederlagen verteilt, wird eigentlich Unvergleichbares wie Studienplätze und Stadtautobahnkilometer gegeneinander in Aufrechnung gebracht.
4) Kommt es zu einem akzeptablen und von der Mitgliederversammlung akzeptierten Ergebnis, ist dies das Programm für vier Jahre. Wer nach einem Monat in irgendeinem Gremium den Tagesordnungspunkt „Koalitionskrise“ beantragt, wird gesteinigt.
5) Nicht alles läßt sich voraussehen, und Dynamik ist ja durchaus gewünscht und Voraussetzung dafür, daß das Projekt Rot- Grün im zweiten Anlauf erfolgreich ist. Hoffen wir daher, daß die schlechte Wahlkämpferin Ingrid Stahmer als Regierende Bürgermeisterin um so besser, um so kooperativer und kompromißfähiger sein wird. Wer wird dann noch vom Schlafwagen- Wahlkampf im Herbst 95 reden?
wird fortgesetzt
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