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Getrennte Klos und entsprechende Papiere

Auf Wänden und Gewölben kämpfen blaugekleidete Seemänner mit den Unbilden des Atlantischen Ozeans und ihren Netzen. Sommer auf Island: Ein frühherbstlicher Blick auf Flatey, Insel der Fischer, Kutter und Bibliotheken  ■ Von Wolfgang Müller

Ein dicker, schwarzer Punkt ist sie auf den isländischen Landkarten: die auf der gleichnamigen Insel gelegene Gemeinde Flatey im Breidalsfjördur – Orte unter 500 EinwohnerInnen. Tatsächlich leben auf dem 0,41 Quadratkilometer großen, 1,8 Kilometer langen und bis zu 500 Meter breiten Eiland nur 17 Menschen.

Flatey heißt übersetzt „flache Insel“. Dessenungeachtet mißt die gänzlich baumlose Insel an ihrer höchsten Erhebung 16 Meter. Zu Flatey gehören 39 Inselchen, Riffe und winzige Schären – alle, wie die anderen über 2.700 Inseln des Breidalsfjördurs, unbewohnt.

Der Ort zählt zu den ältesten Siedlungen in Island. Noch heute stehen einige der alten Handelshäuser aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts und begründen Flateys Ruf als die am besten erhaltene alte Siedlung Islands. Von dem laut Lexikon 1172 bis 1184 existierenden Augustiner-Kloster ist allerdings kein Stein mehr zu sehen. Durch mehrere Jahrhunderte war Flatey ein bedeutender Handelsplatz, und im Jahr 1777 wurde der Insel schließlich der Status eines Handelsortes verliehen. Auf die ansässige Industrie zeigte dieser Aufstieg zunächst kaum Wirkung: Bis zum Jahr 1822 mußten die Fischer mit kleinen Booten ihren Fang einholen. Dann erst erhielten sie größere, hochseetüchtige Schiffe mit Überdachungen, Thilskipautgerdf genannt.

In einer Zeit, in der die Ortschaften und Landesteile Islands oft nur über den Seeweg miteinander erreichbar waren, galt die Insellage als besonders verkehrsgünstig – und aus den spärlichen Häusern entwickelte sich so eine der ersten Städte Islands überhaupt.

Um 1850 war die Insel gar eines der wichtigsten Kulturzentren des Landes. Die Zeitschrift Gestur Vestfirdingur, „Der Gast aus den Westfjorden“, wurde hier herausgegeben. 1863 fand das Richtfest zur Einweihung der inseleigenen Bibliothek statt. Das kleine, goldocker gestrichene Holzhäuschen mit dunkelbraunem Wellblechdach – es mißt etwa zwei mal drei Meter im Grundriß – steht in einer Holzumzäunung hinter der erst 1926 erbauten Kirche. Das Gotteshaus nimmt sich daneben wie ein recht zeit- und stilloses Klötzchen aus – rotes Spitzdach, schwarzbekappter Turm und kein Pastor. Im Inneren allerdings hat sich vor über 40 Jahren ein von El Greco inspirierter und dem expressionistischen Pinselduktus der fünfziger Jahre verbundener namenloser spanischer Maler ausgetobt. Auf den Gewölben und Wänden kämpfen blaugekleidete Fischer mit den Unbilden des Meeres und ihren Netzen, während sich die tosende See ekstatisch um die kleinen Holzboote schlingt.

Zurück zur Bibliothek. Sie kann sich rühmen, die erste öffentliche Bücherei Islands überhaupt zu sein. Etwa zwanzig Bücher dürfte der heutige Bestand betragen. Sie stehen und liegen verstreut in den langen Holzregalen, die an den Innenwänden angebracht sind. Um welche Titel es sich dabei handelt, ist mit einem Blick durch die etwas angestaubten Glasscheiben leider nicht zu ermitteln. „Die Bücherei hat keine Öffnungszeiten“, sagt Gudbjörg, die Farmerin vom nächstgelegenen Bauernhof, „das Haus ist gerade renoviert worden und nur zum Anschauen da.“

Im 17. Jahrhundert zeigte der dänische König Interesse daran, die alten isländischen Schriften zu sammeln. Einer seiner Getreuen, der Gelehrte Arni Magnusson, war ihm dabei behilflich und überreichte der Universität von Kopenhagen schließlich eine große Anzahl dieser Schätze. Sie wurden in einer Spezialbibliothek zusammengefaßt. Das berühmte Flateyjarbok, eine Sammlung von Sagas, die von 1382 bis 1387 aufgeschrieben wurden und teilweise nur in dieser Abschrift erhalten sind, war indessen ein Geschenk des isländischen Bischofs von Skalhoit an den König. Die im Auftrag des Bauern Jon Hakonarson entstandene Handschriftensammlung enthält Geschichten über die norwegischen Könige sowie Texte über die Entdeckung Amerikas, die „Graenlendinga Saga“. 225 Seiten umfaßt das Kompendium, das aus 113 Kalbshäuten gefertigt wurde.

Im 20. Jahrhundert, im Kampf um die Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Dänemark, gab es in Island einige Bestrebungen, das Kulturerbe zurückzubekommen. Vorgetragen wurde dieses Anliegen mit dem Argument, daß die dänische Universität ja seinerzeit auch die isländische gewesen sei. Mittlerweile habe man aber eine eigene Universität und könne an Ort und Stelle forschen und studieren.

Schließlich entschloß sich die dänische Regierung, dem Drängen nachzugeben, und überreichte in einer offiziellen Veranstaltung am 21. April 1971 den Vertretern des isländischen Staates die wichtigsten Bücher, darunter das Flateyjarbok, – als Geschenk. Für die kostbaren Handschriften wurde eigens ein Museum gebaut: Im Reykjaviker Arni-Magnusson-Institut können Forscher auf Antrag einen Blick in die Schriften werfen oder mit Hilfe der vorhandenen Kopien linguistische Studien betreiben.

In der Zeit, in der das Flateyjarbok wieder nach Island kam, war Flatey gerade dabei, zum Geheimtip der Reykjaviker Bohème zu werden. Künstler und Schriftsteller mieteten einige der knapp zwanzig Häuser, um Abstand vom Streß der Metropole Reykjavik zu finden – vorzugsweise im Sommer. Als dann Anfang der achtziger Jahre Island für Touristen aus Europa mehr und mehr interessant wurde, verschlug es einige von ihnen auch nach Flatey. Auf einer sumpfigen Wiese im Herzen der Insel wurde eigens für die Fremden ein modernes Kommunikationszentrum errichtet: ein Telefonhäuschen mit Münzfernsprecher. Anfang der neunziger Jahre schließlich fand die Umrüstung der Zelle zum bargeldlosen Kartentelefon statt.

Nach 90 Minuten Fahrt über den Breidafjordur erreicht die Fähre „Baldur“ den Zwischenstopp Flatey. Ein leicht gewundener heller Sandweg führt von der Anlegestelle in den Ort. Höchstwahrscheinlich begegnet man dem einzigen Auto der Insel, einem alten roten Renault ohne Nummernschild. Er wird zum Transport von Eßwaren oder sonstiger Konsumgüter und zur Beförderung der vereinzelten Gäste des „Veitingastofan Vogur“, des „Kaffeehauses zur Bucht“, eingesetzt. Immer aber sitzt Anna, die Tochter der Wirtin, hinter dem Steuer.

Das Kaffeehaus, das zudem Restaurant und Pension ist, ist von Anfang Juni bis Ende August geöffnet. Es bietet zehn Schlafsackunterkünfte, einfache warme Mahlzeiten und Kochmöglichkeiten für Selbstversorger. Selbstgefangenen Fisch kann man beim Bauern kaufen.

Auf dessen direkt ans Meer grenzendem Grundstück befindet sich auch der offiziell ausgewiesene Campingplatz. Seine genaue Lage wird durch ein weiß-blaues Schild markiert, auf dem ein Zelt abgebildet ist. Die Bäuerin mustert interessiert meinen Reisebegleiter und dessen acht Ohrringe. „Bei diesem Wetter wollen Sie zelten?“ Wir schauen sie verwundert an. „Elf Grad und Nieselregen – ein ganz normaler Sommertag ...“ Sie deutet auf das Schild: „Irgendwo da können Sie das Zelt aufschlagen.“ Wir seien die ersten Gäste seit zwölf Tagen, sagt sie und führt uns zu einem kleinen Holzhäuschen für die sanitären Angelegenheiten. Es enthält ein Damen- und ein Herren-WC mit entsprechenden Papieren sowie einen Wasserhahn, aus dem eiskaltes Süßwasser fließt. Flatey wird durch Tanks mit Trinkwasser versorgt, während ein Generator in der Nähe der Anlegestelle Strom produziert. Auf Betonplatten, die neben dem WC- Häuschen in den Boden eingelassen sind, befindet sich ein einfach gezimmerter Holztisch nebst zwei rustikalen Holzbänken – Küche und Wohnzimmer für Selbstversorger.

Informationen: Veitingastofan Vogur, 345 Flatey, Tel. 4381413; Fax: 4381093

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