Zwischen Wegschauen und Inquisitionseifer

■ Eine zunehmend hilflose Ruanda-Debatte bewegt Frankreich und Belgien

Brüssel (taz) – Mehr als ein Jahr nach dem Genozid in Ruanda geht der Trend in Europa dahin, der Öffentlichkeit mangels Zugriff auf die wahren Schuldigen Pseudo- Verbrecher vorzuwerfen. Kritiker der heutigen Regierung werden mit Mördern gleichgesetzt, während mögliche Verantwortliche ungeschoren bleiben.

Im vergangenen Juli verhaftete die französische Polizei den ruandischen Abt Wenceslas Munyeshyaka. Sein Name findet sich auf einer von Ruandas neuer Regierung aufgestellten Kriegsverbrecherliste. Es gab Zeugenaussagen, wonach er im Frühjahr 1994 in der „Kirche der Heiligen Familie“ in Ruandas Hauptstadt Kigali fliehende Tutsi-Frauen aufnahm – und dafür sexuelle Gegenleistungen verlangte und dazu Flüchtende an die Mördermiliz „Interahamwe“ auslieferte.

Der Priester, der heute in dem französischen Dorf Bourg Saint- Andéol im Département Ardèche offiziert, gibt zu, in dieser Zeit über eine Schußwaffe und eine kugelsichere Weste verfügt zu haben – „zum Selbstschutz“. Er gibt auch zu, daß er damals um des Überlebens willen in einem Interview mit der Lyoner Zeitschrift Golias milizenfreundliche Aussagen machte. Wenceslas' Name erscheint auch unter einem Brief dreißig ruandischer Priester an den Papst, in dem kräftig gelogen wird: „Die Zahl der von der RPF-Armee getöteten Hutu-Zivilisten übersteigt bei weitem die der Tutsis, die den ethnischen Unruhen zum Opfer gefallen sind“, heißt es, und: „Beenden wir das Gerede vom internationalen Tribunal, wo die Kriminellen sich anschicken, zugleich Ankläger und Richter zu sein“.

In den Augen des Gerichts von Nimes in Frankreich reichte all dies jedoch nicht aus. Am 15. August sprach es von „haltlosen und diffamierenden Anschuldigungen“ und verfügte die Entlassung des Priesters. Bis Dezember soll nun das Gericht von Nimes über den Fortgang der Affäre entscheiden. Der Pariser Richter Christophe Ruin beantragte die Einstellung des Verfahrens und erklärte am 4. Oktober, Frankreich sei „unzuständig“ für in Ruanda von Ruandern begangene Verbrechen.

Ende August ereignete sich eine umgekehrte Kontroverse in Belgien. Auf der Grundlage von Zeugenaussagen, die die Menschenrechtsorganisation „African Rights“ und die Wochenzeitung Solidaire der maoistischen Splittergruppe „Partei der belgischen Arbeit“ (PTB) gesammelt hatten, benannten belgische Medien zwei in Belgien lebende ruandische Benediktinerinnen als Komplizinnen des Völkermordes: Die frühere Priorin des Sovu-Konvents, Schwester Gertrude Mukangango, und die Nonne Schwester Julienne Kizito, sollen im April 1994 Hunderte von Flüchtlingen an die „Interahamwe“ ausgeliefert haben. Die seien dann mit Handgranten getötet oder lebendig verbrannt worden. Schwester Julienne habe den Scheiterhaufen angezündet.

Abt Celest Cullen, irischer Präsident des betroffenen Benediktiner-Ordens, gibt eine andere Version, die er auch auf vor Ort gesammelte Zeugenaussagen stützt. „Die Wahrheit“, sagt er, „ist, daß Schwester Gertrude Zufluchtsuchende aufgenommen und einigen davon bei der Flucht geholfen hat“. Sie habe ihr Leben riskiert.

Aus der Entfernung ist es unmöglich zu sagen, wer hier recht hat. Die Anhäufung von Augenzeugenberichten ist zweifellos beeindruckend. Aber zugleich werden hier auch politische Süppchen gekocht. Rakiya Omaar, die somalische Direktorin von „African Rights“, ist von der Existenz eines „katholischen franko-belgischen Komplotts“ überzeugt, das am Völkermord mitschuldige Religionsführer schützen soll. Die maoistische PTB hält Ruandas regierende „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) für die Speerspitze der Revolution und jeden Kritiker der RPF für einen Komplizen des Völkermords.

Auch die linkskatholische französische Zeitschrift Golias teilt die Grundzüge dieser Analyse. In einer Sondernummer erinnerte sie im Juli völlig zu Recht an die „Allianz zwischen Machete und Weihrauchfaß“, das Bündnis von der katholischen Hierarchie und der internationalen Christdemokratie mit dem Habyarimana-Regime in Ruanda. Aber darüber hinaus begab sich Golias in eine seltsame Inquisitorenrolle. Sie warf der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte vor, Ruandas Generalstaatsanwalt François-Xavier Nsanzuwera „verhätschelt“ zu haben, und führte den Publizisten André Sibomana auf einer Liste von „Priestern, die mordeten oder Mörder ermutigt haben“.

Nsanzuwera entkam selbst während der Massaker nur knapp dem Tod und stellte als Generalstaatsanwalt der neuen Regierung die ersten Haftbefehle gegen Verantwortliche des Völkermords aus. Der einzig mögliche Grund für Kritik kann sein, daß Nsanzuwera Ruanda inzwischen verlassen hat, nachdem er Übergriffe der RPF- Armee kritisierte und dafür Todesdrohungen erhielt.

Auch für die Beschuldigung gegen Sibomana bringt Golias keinen Beweis. Der langjährige Gegner Habyarimanas ist Chefredakteur der unabhängigen katholischen Zeitung Kinyamateka und Preisträger von „Reporter ohne Grenzen“ (siehe Sondernummer von Kinyamateka in der taz vom 6. 4. 1995), und 1994 mußte er sich vor den Milizen und der Armee verstecken. Und es gibt Ruander, die ihm nach eigener Aussage ihr Überleben verdanken. François Misser