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Zehntausende Serben fliehen vor Kämpfen

■ Bosnische Regierung zögert den vereinbarten Waffenstillstand erneut hinaus

Sarajevo/Brüssel (AFP) – Die bosnische Regierung hat die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens am Dienstag abend erneut hinausgezögert, um ihre Positionen im Nordwesten des Landes auszubauen. „Die Muslime wollen nach der Eroberung von Mrkonjić Grad offenbar noch ihre Offensive Richtung Sanski Most und Prijedor fortsetzen. Es sind die bosnischen Generäle, die die Waffenruhe blockieren“, sagte ein UN- Mitarbeiter gestern in Sarajevo. Die bosnischen Serben akzeptierten dagegen gestern das Inkrafttreten eines Waffenstillstandes. Dies verlautete aus UN-Kreisen in Sarajevo.

Die bosnische Regierung hatte das Inkrafttreten der Feuerpause am Dienstag abend wegen Mängeln bei der Energieversorgung Sarajevos erneut verschoben. Hintergrund der Verzögerung waren Beobachtern zufolge aber vor allem weitere Geländegewinne der Regierungstruppen und kroatischer Einheiten. In der Nacht zum Mittwoch meldeten die Regierungstruppen die Eroberung der serbisch kontrollierten Stadt Sanski Most.

Ein bosnischer Offizier sagte gestern, seine Soldaten würden ihren Vormarsch fortsetzen und spätestens am Nachmittag in Prijedor, 30 Kilometer nördlich von Sanski Most, sein. „Prijedor ist ein Symbol für uns. Unser Kampf hätte keinen Sinn, wenn wir diese Stadt nicht eroberten“, sagte der Offizier. Aus Prijedor war die mehrheitlich muslimische Bevölkerung 1992 vertrieben worden. Internationale Beobachter hatten in der Nähe zahlreiche Massengräber entdeckt.

In Prijedor trafen nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) am Mittwoch 30.000 Flüchtlinge ein. Weitere 10.000 Menschen wurden noch im Laufe des Tages im nordbosnischen Banja Luka erwartet. IKRK, UN-Flüchtlingskommissariat und die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen organisierten die Entsendung von sechs Hilfstransportern mit Nahrungsmitteln und Decken für Prijedor.

Nachdem zahlreiche Bewohner Sarajevos gestern erstmals seit mehr als vier Monaten wieder Gas und Strom erhielten, wurde die Verzögerungstaktik der bosnischen Regierung von der Serbenführung in Pale und der russischen Regierung scharf kritisiert. Rußlands Außenminister Andrej Kosyrew sagte in Helsinki, er sei „unzufrieden und enttäuscht“. Rußland und die übrigen Staaten der Bosnien-Kontaktgruppe hätten ihr Möglichstes getan, um die Kriegsparteien zu einer Feuerpause zu bringen. Der russische Sondergesandte für Ex-Jugoslawien, Alexander Sotow, warf der bosnischen Regierung vor, mit der Verzögerung des Waffenstillstands die internationale Gemeinschaft zu „erpressen“.

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