: Der Müllmagnetismus Von Mathias Bröckers
Vor unserer Haustür wächst seit zwei Wochen eine Struktur, die als so etwas wie ein Signum des Zeitalters, ja der Spezies insgesamt gelten könnte. Es handelt sich um eine wilde Müllkippe.
Es fing damit an, daß jemand einen zu Schrott gefahrenen Aldi- Einkaufswagen abstellte. Dann wuchteten die bosnischen Flüchtlinge aus ihrer Parterrewohnung im Hinterhof abends zwei riesige Sessel auf die Straße und plazierten sie ebenfalls neben den Baum. Zwar verschwanden die gelblichen, abgewetzten Ungetüme nach ein paar Tagen in das Heim eines glücklichen Neubesitzers, dafür hatten sich aber in der Zwischenzeit eine alte Wäscheschleuder, Bretter und Renovierungsabfall sowie diverser anderer Kleinschrott angesammelt.
Wenn der Besendienst der Berliner Stadtreinigung alle zwei Tage die Straße fegt, nimmt der Kehrer jedoch nur mit, was auf die Schaufel paßt. So wird jetzt zwar das Herbstlaub blattweise zusammengekehrt, der Sperrmüll- und Schrotthaufen aber bleibt und wird täglich größer. In gewisser Weise ist die Stadtreinigung zu verstehen: Würden sie den Unrat gleich entfernen, würde kein Mensch mehr den Sperrmüll anrufen, der dann nach vier bis sechs Wochen vorbeikommt. Und so steht der Schrott dann eben vier bis sechs Wochen auf der Straße.
Vor 20 Jahren, als ich hierher zog, gab es noch die öffentliche Sperrmüllabfuhr, die die Bürgersteige einmal im Jahr in ein regelrechtes Schlachtfeld verwandelte. Während die besseren Wohngegenden von Trödlern und Flohmarktprofis generalstabsmäßig nach Edelmüll durchkämmt wurden, brach hier so etwas wie der freie Potlatsch der Bevölkerung aus. Bis in die Nacht wurden die Müllgebirge nach Brauchbarem durchwühlt und, ex und hopp, ganze Wohnungseinrichtungen ausgewechselt. Es wurde ausgespuckt, was Dachböden, Keller und private Giftmüllager hergaben – und wenn die große Müllorgie vorbei war, mußten sämtliche Bürgersteige desinfiziert werden.
Trotz der unhaltbaren Zustände bedauere ich die Abschaffung der freien Sperrmüllabfuhr und kann dem „Schandfleck“ vor unserer Haustür sogar noch etwas abgewinnen. Die Deponie lebt: Heute nacht zum Beispiel ist ein großer Fetzen Auslegware hinzugekommen. Müll hat eine magnetische Wirkung, die mit seinen Anwachsen exponential steigt, während eine einzeln herumliegende Dose kaum anziehende Wirkung hat, verfügt ein ganzer Haufen über nahezu absolute. Am Lausitzer Platz hat dieser Müllmagnetismus schon zu einer „Allee der Kühlschränke und Waschmaschinen“ geführt. Und würde die Halde vor unserer Tür noch ein bißchen wachsen, könnte selbst ein braver Getrenntsammler wie ich kaum widerstehen, schnell noch die alte Matratze dazuzupacken, die schon ewig der Entsorgung harrt.
Für einen Stadtforscher der „Chicagoer Schule“ wären die „naturwüchsigen“ Kreuzberger Straßendeponien – eingesammelt und im Nobelviertel Grunewald originalgetreu wieder ausgestellt – ein lohnendes Objekt der Forschung. Die Trash-Soziologie offenbart tiefe Blicke in die Seelen der Konsumgesellschaft. Je mehr Waren der Bauch in Müll verwandelt, desto weniger ist das Hirn bereit, den Terror dieser Metamorphose ins Auge zu sehen.
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