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Gegen die Verortung ins Reservat Migrationsliteratur 2000 – eingewanderte Autoren äußern sich zu Deutschland, ihrer Literatur und ihren Perspektiven. Drei Fragen, zehn unterschiedliche Antworten und Selbstbewertungen

José F. A. Oliver

Geboren in Hausach (Schwarzwald). Andalusischer Herkunft. Lyriker. Letzte Veröffentlichung: „Gastling“, Lyrik, Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1993.

Hamham und Schmatz! Nett und multikulti und inter und trans. Bi wäre das mindeste und schon viel. Mehr hieße noch mehr etc. Multikulti als fügsamer ungefügiger Ausdruck – ist bisweilen so richtig nett per se: Erinnert mich wirksam und dudenhaft an „nett“, dieses Ab-Wort „multikulti“ – so nichts aussagend babbelnd Kompensationen führend, Tabus berührend und: multikulturell doch irgendeine der Seelenkammern mit waghalsiger Hoffnung einräumend, daß die Kunst des Kochens ums Schmecken weiß. Ich meine es wirklich ernst, weil mit Humor. Dieses gelenkige Fluchtwort selber und andere im Gefolge der Begriffssuchenden auf der literarischen Meta-Ebene, wo die verschiedensten Süppchen zubereitet werden: intertransmultibiviele MehrLiteratur? Was soll's. Hauptsache: Kulturell! Literatur als Ariadnefaden, der aus den labyrinthischen Debatten auffädelt das Phantastische zu einem Humanum ...? Sie läßt sich auf Dauer wohl nicht in die Schubladen der Registrierkassen stecken. Dies das eigentliche Politikum. Dann doch lieber griechisch speisen und in fremder Küche sich heimisch genährt fühlen, obwohl mensch auch in Sachsen Schafe kennt und Blökpfade in Spanien. (Wo diese wohl ihre Wanderung begonnen haben?)

Literaturen schaffen ein eigenes Gedächtnis: Poesie. Ob mit oder ohne seßfhaftige Flüchtlinge, die sich ihrer bedienen wollen. Literaturen waren und sind immer Nomaden, weil aus Sprache gebaut, deshalb „unkommandierbar“, würde Walser, Martin sagen. Die Grenzen des Literarischen bestimmen immer noch die Schäferstündchen und nicht die Herde beim Trampeln, geschweige denn die stockgestützten Hirten oder deren bellende Hunde.

Das weite Feld ist eigentlich noch viel weiter, als wir es uns vorstellen können. So manches franst aus an den Rändern. Grasses Gras. In Deutschland gar im Innern. Literaturen in Deutschland? Auch hier entstehen sie: besonders und bleibend dort, wo dieses Land im Innern ausfranst. Nicht zu halten, die schwarzen Schafe, will sagen: die Dichter. Auch nicht in Zukunft. Bleiben wird die Poesie ohne Paß. Auch in Deutschland, wo Pässe zuweilen enger angelegt werden. Und mein dichter Wunsch? Mensch möge sie kosten, die Poesie, und nicht nur darüber akademisieren. Sei es in Paris, London oder Berlin. Die Welt findet statt. Gestern habe ich wieder einmal den Duft einer Rose gerochen. Schade nur, daß sie verwelken wird, trotz des biologischen Wissens um so manches Gen.

Adel Karasholi

Adel Karasholi wurde 1936 in Damaskus geboren. Seit 1961 lebt er in Leipzig. Er promovierte über das Theater Brechts. Letzte Veröffentlichung: „Also sprach Abdulla, 1995, Gedichte.

Literatur ist Literatur. Ihre Identität liegt im Ästhetischen, nicht im Soziologischen. Die verfremdende Sicht schafft Distanz und strebt doch Nähe an. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen der Literatur eingewanderter Autoren und der ihrer eingeborenen Kollegen. Die Verfremdung darf aber nicht auf Exotik reduziert werden. Exotik verharrt im Fremdartigen. Sie distanziert, ohne Nähe zu schaffen. Die verfremdende Sicht hingegen versucht das Fremde als Exotik zu relativieren und womöglich zu überwinden und es sich als vertraut anzueignen. Es kommt zu einer Symbiose, zu Konfrontation und Umarmung zugleich, was im Ergebnis etwas vertraut-unvertrautes in die Literatur einzubringen vermag.

Solange diese Literatur jedoch in „Sonderseiten“ abgehandelt, in „Sonderveranstaltungen“ verbannt, mit „Sonderpreisen“ bedacht wird, ist man geneigt, sie kaum als ästhetisches, sondern nur als soziologisches Phänomen zu begreifen und nur als solches zu akzeptieren.

Ich gehöre zur ersten, verlorenen Generation der Einwanderer. Deutsch war für mich eine künstliche Sprache. Mitterweile neige ich dazu, die Entscheidung, Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben, als „töricht“ zu bezeichnen; dennoch war sie schicksalhaft, unabwendbar. Ich verstand mich schon aufgrund meiner Biographie als Vermittler. Meine Gedichte sind jedoch seit Anfang der achtziger Jahre nichts als Orientierungsmöglichkeiten, Existenz- und Überlebensformen. Und wenn Literatur überhaupt als Vermittlerin zu fungieren vermag, dann nur von innen heraus und in ihrer Summe, nicht aber als Appell.

Einwanderer bleiben keine Einwanderer bis in alle Ewigkeit. Was, wenn die Kinder und deren Kinder hier geboren werden, wenn die deutsche Sprache zu ihrer natürlichen Sprache wird, wenn sie nicht nur die semantische, sondern auch die emotionale und assoziative Geschichte der Wörter mit der Muttermilch in den Körperzellen zu speichern imstande wären? Warum sollten ihre literarischen Werke – falls auch sie eines Tages schreiben – einer gesonderten Ausländer- oder Einwandererliteratur angehören?

Gino Chiellino

Gino, Carmine Chiellino, geboren 1946 in Calabria. Lyriker und Literaturwissenschaftler.

Letzte Veröffentlichungen: Sich die Fremde nehmen, Gedichte, Kiel, Neuer Malik Verlag 1992, und: Am Ufer der Fremde. Literatur und Arbeitsmigration (1870-1991), eine Monographie, Metzler Verlag 1995.

1. Exotiker und Fremdblicker, Zaungäste und Flaneure sind beglückte Voyeure. Sie erfahren Genuß ohne Gegenleistung. Für meine Literatur wünsche ich mir einen Gesprächspartner. Wird der Leser meiner Gedichte sich meinem Angebot stellen? Das hängt davon ab, ob es mir gelingt, ihm zu verdeutlichen, daß ein Gespräch über Einwanderer kein Gespräch über Bäume ist. Während der Spruch von engangierten Autoren Nein zum Ausländerhaß auch meinen Leser in die Verantwortung nimmt, schlage ich ihm vor, ein befreiendes Ja zu wagen. Ja zur rechtlichen Gleichstellung aller Nicht- Deutschen in der BRD, denn nur so kann er sich von der Last einer Schutzmacht befreien. Daher unterscheidet sich meine Literatur durch die Tatsache, daß ich die feinen Unterschiede zwischen Einwanderern und Bäumen erkannt habe.

2. Mein Standort heißt interkulturelle Authentizität. Sie besteht aus sprachlicher Glaubwürdigkeit, die eine Herausförderung der Gast- und Herkunftskultur zugleich ist. Meine Metapher Sich die Fremde nehmen und die Nacht der Republik betrachte ich als gelungenes Beispiel dafür. Sich die Fremde nehmen, weil die erzielte Sprachintensität die Fremde als befreite Lebensform ankündigt. In Nacht der Republik gehe ich gegen die italienische Metapher Notte della repubblica vor. Gegen die Arroganz derjenigen, die die Niederlage ihres schichtspezifischen Denkens als Untergang der gesamten Gesellschaft hinstellen, wird die Nacht bei mir zum Geburtsort einer offenen Republik (siehe unten). Erst im Kontext interkultureller Authentizität wird möglich, identitätsstiftende Mythen wie die Vertreibung aus dem Paradies und Babylons Sprachenverwirrung als die großen Mythen um das Wort zu begreifen.

Die Vertreibung aus dem Paradies war für mich niemals der peinigende Verlust der Heimat, sondern der Weg zum Wort durch die Schaffung der Werkzeuge: Nimm / den Apfel an / und / verteile / das Wort. Und Babylons Sprachenverwirrung ist die Geburtsstunde der offenen Gesellschaft durch Sprachenvielfalt gegen die Gefahr der vertikalen Herrschaft einer einheitlichen Sprache, wie zum letzten das Russische in der ehemaligen SU: In der Nacht der Republik / wurde sogar Gott tätig / im Zorn vernichtete er den Turm / und gnädig stiftete er/ Verwirrung unter den Menschen.

3. Das Ziel der Migrationsliteratur 2000 ist längst angepeilt und lautet emanzipierte Weltliteratur. Indem interkulturelle Authentizität den Austausch zwischen den Sprachen und die Verschmelzung der Kulturen als unfruchtbare Vorgänge vereitelt, stiftet sie Weltliteratur jenseits der nationalen Literaturen. Inzwischen gedeiht sie weltweit und prächtig, im Deutschsprachraum erfreut sie sich an reifer Kreativität.

Ota Filip

Geboren am 9. 3. 1930 in Ostrava. Seit 1974 in der Bundesrepublik Deutschland. Letzte Veröffentlichungen: Café Slavia, Roman, 1985 und: Die Sehnsucht nach Procida, Roman, 1987.

1. Es gibt drei wesentliche Unterschiede: 1. in der Sprache, 2. in der Auswahl unserer Themen, 3. in unserer so häufigen Larmoyanz, mit der wir den Anspruch erheben, mehr gedruckt, mehr gelesen und mehr geliebt zu werden, als eingeborene deutsche Autoren. Sonst fällt mir kein weiterer Unterschied auf. Sogar die Zahl der unbegabten Schreiber in unseren ausländischen Reihen entspricht dem Prozentsatz von Graphomanen in der deutschen Literatur.

2. Ein eingewanderter Autor, der die deutsche Sprache für seine ursprüngliche Muttersprache austauscht, bezieht öfters als unbedingt notwendig den Standort eines Minderheitslobbyisten, eines Kulturvermittlers und eines lebenslänglich in Bikultur verdammten Dichters. Das ist nicht schlimm. Viel schlimmer wird es für einen Dichter, der die deutsche Sprache bewußt als seine zweite und literarische Sprache wählt dann, wenn er sich in den drei oben genannten Standorten einigelt oder sich mit der Zeit sogar in ihren Ghettos wohl fühlt.

Von einem Dichter, der hier als Ausländer geboren wurde, nicht in seine Heimat zurückgehen will oder nicht mehr zurückgehen kann, von einem Literaten, der seine Heimat verläßt oder verlassen mußte, um sich vor dem Zugriff von Diktatoren zu retten, erwarte ich wenigstens, daß er die Tatsache begreift, daß wir, die im deutschen Sprachraum Rettung und eine neue Heimat gefunden haben, jetzt und wahrscheinlich für immer bis zu unserem letzten Tag im deutschen Sprachraum leben und schreiben werden. Und haben uns Deutsche mit Gewalt gezwungen, deutsch zu schreiben? Es steht uns doch frei, hier in unseren Muttersprachen zu dichten ... Und wenn wir uns entschlossen haben, deutsch zu schreiben und zu publizieren, dann berechtigt diese Tatsache nicht unseren oft schon hysterisch vorgetragenen Anspruch auf bevorzugte Behandlung und Aufmerksamkeit.

Zur Ausländerfeindlichkeit habe ich nicht viel zu sagen, nur: Ich als Ausländer oder Ersatzteutone empfinde zu den Deutschen keinen Ausländerhaß.

3. Schon im Augenblick, in dem wir über bundesdeutsche Literatur der Eingewanderten sprechen, stellen wir uns ins Abseits. Wenn wir deutsch schreiben und publizieren, sind wir ein Bestandteil der deutschen Literatur. Und im nächsten Jahrtausend wird es immer häufiger Wanderer zwischen Sprachen, Literaturen und Kulturen geben. Wir stehen erst am Anfang einer großen Ein- und Auswanderung von Kulturen. Mir persönlich tut es nur leid, daß ich zu alt bin, um noch einmal oder sogar zweimal die Sprache zu wechseln und nach 20 Jahren im deutschen Sprachraum es noch mit Chinesisch oder Portugiesisch zu versuchen.

Franco Biondi

Der Autor, 1947 geboren, ist Schriftsteller, Psychotherapeut und Herausgeber zahlreicher Anthologien. Letzte Veröffentlichung: „Ode an die Fremde. Gedichte“. 1973-1993 (1995).

1. Es gibt keinen Unterschied, wenn man die Literatur der EinwanderungsautorInnen heranzieht, die den exotischen Blick pflegen. Bei ihnen ist die Sprache ebenso trivial und obrigkeitshörig wie bei den meisten eingeborenen Autoren; Form und Inhalt sind bei beiden an dem Geschmack des Literakonsumenten orientiert. Folklore- und diese Eingeborenenautoren haben gemeinsam, daß sie den Konflikt, der die Gegenwart prägt, in ihrer Literatur wenn nicht ausklammern, dann schubladenhaft einordnen. Demgegenüber existieren Einwanderungsautoren, die die Sprache, die Inhalte und die Form konflikthaft zueinander führen. Und die tabuisierten Konflikte thematisieren, jenseits der Klischeekonflikte (Neonazis, Fundamentalisten etc.).

2. EinwanderungsautorInnen geht es nicht viel anders als den einzelnen Angehörigen der ethnischen, kulturellen Minderheiten; das heißt, sie haben die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob sie sich vollkommen anpassen (nicht integrieren, sondern desintegrieren), also nach dem Mund der Mehrheit, ganz gleich welcher Couleur, schreiben, ob sie ihr Werk im Ghetto ihrer Minderheit fristen wollen oder ob sie den autonomen Weg suchen und gehen. Minderheitenlobbys sind dementsprechend Ghettos und ein Unding, weil Autoren bestenfalls sich selbst vertreten können. Demgegenüber entstammen „Kulturvermittlung“ und „Bereicherung“ der Kiste des (Kultur)Warenaustauschs und wollen eine Offenheit soufflieren, die nur als Ideologie oder im Multikultimärchen vorkommt. Abgesehen davon findet der entscheidende „Kulturaustausch“ seit Jahrhunderten statt und macht die offiziellen Literaturen der Welt aus. AutorInnen mit dem autonomen Weg können die eigene biographische Geschichte in einem triaden Verhältnis mit Minder- und Mehrheitsfragen verbinden. Oder sie können sie sortieren und das eigene darin finden.

3. Grundsätzlich, solange es Einwanderung gibt, werden EinwanderungsautorInnen existieren. Manche von ihnen werden das produzieren, was wir aus diesem Jahrhundert kennen, und werden damit weiterhin die Klischees der Mehrheit bestätigen und bereichern. Es ist bereits zu erkennen, daß es einige Einwanderungsautoren gibt, die andere Wege gehen. Was mich anbelangt, wenn es mich und die Welt noch gibt, werde ich vermutlich weiterhin Romane, Essays und Gedichte schreiben, die viele in Deutschland nicht lesen werden, weil sie lieber vom exotischen Blick verhext werden wollen, als zum Denken und Fühlen über Sprache und Ästhetik angeregt zu werden. Aber da es auch den kleinen Kreis gibt und geben wird, der mit Lesen Denken und Fühlen verbindet, werde ich mit ihm die Fragen angehen, die sich zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ergeben werden.

Sinasi Dikmen

Sinasi Dikmen, geboren 1945 in Deutschland, seit 1987 freier Kabarettist und Autor. Schreibt in deutscher Sprache, ausschließlich Satire. Letzte Veröffentlichung: „Hurra, ich lebe in Deutschland“, 1995, Piper- Verlag München.

1. Konjunktur des exotischen Blicks: Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Literatur eingewanderter Autoren und der Eingeborenen: Wir erzählen geradeaus, ohne Wortfindung und –spielerei. Die Technik ist einfach, die Sprache klar, die Thematik stimmt. Der Eingeborene problematisiert die Problematik so problematisch, daß am Ende die Problematik noch problematischer wird. Manchmal denke ich mir, daß es besser wäre, daß viele deutsche Autoren irgendwo auf der Welt in ein Goethe-Institut geschickt werden müßten, damit sie lernen, wie man sich in der deutschen Sprache schriftlich ausdrücken soll. Um der Erzähltechnik willen geben sie alles auf. Die Literatur des Eingeborenen wird jeden Tag provinzieller, langweiliger. Denn, die verdiente Resonanz finden sie im Ausland – nämlich fast keine.

2. Literarische Loyalität oder multikulturelle Lobby: Der eingewanderte Autor wird sowohl in der Literaturkritik als auch in der Literaturdiskussion als ein Sozialarbeiter angesehen, der bei der Deutschengeisteswohlfahrtarbeit tätig ist. Der Rezensent weiß über die Hintergründe des Autors fast nichts, er erwartet von dem Autor Informationen, die er eigentlich von jedem GEO-Heft bekommen könnte. Nach einer Veranstaltung sagte mir der Veranstalter: Ich danke Ihnen, Sie haben mich am besten informiert, jetzt weiß ich, daß Allah und Mohammed fast identisch sind. Er war selber eingeborener Autor. (Ob er noch einer ist?) Oder Herr Autor, trägt Ihre Frau Gemahlin Kopftuch, wenn ja, warum, wenn nicht, warum nicht? Ich schreibe Satire. Nach der Meinung eines Kritikers nicht so vollendet wie Kurt Tucholsky. Wer ist eigentlich dieser Kurt Tucholsky, der mir immer wieder Kopfschmerzen verursacht?

3. Migrationsliteratur 2000: Es wird natürlich eine Migrationsliteratur im Jahre 2000 geben. Ich hoffe, daß die Deutschen auch im Jahre 2000 noch in Deutschland leben. Sonst wäre ja die jetzige Emigrationsliteratur keine Emigrationsliteratur, sondern die der Eingeborenen. Solange ich mit den Deutschen in Deutschland lebe, werde ich Satire schreiben.

Keine Liebeslyrik an niemanden.

Yoko Tawada

1960 in Tokio geboren. Seit 1982 lebt sie in Hamburg. Sie schreibt auf deutsch und auf japanisch. Letzte Veröffentlichung: „Tintenfisch auf Reisen“ (3 Erzählungen) 1994.

Man spricht von der „Konjunktur des exotischen Blicks“. Ein Autor muß allerdings nicht unbedingt Ausländer sein, um einen „exotischen Blick“ zu haben. Aber wenn man zufällig Ausländer ist, so kann man diesen Vorteil im Leben und im Schreiben ausnutzen. Es hat nicht jeder eingewanderte Autor einen exotischen Blick, denn der Blick auf eine Kultur oder auf eine Gesellschaft ist nichts Natürliches. Vielmehr ist der Blick vergleichbar mit einer Brille. Ich muß mir, um Europa sehen zu können, eine japanische Brille aufsetzen. Da es so etwas wie eine „japanische Sicht“ nicht gibt – und für mich ist das keine bedauerliche Tatsache –, ist diese Brille zwangsläufig fiktiv und muß ständig neu hergestellt werden. Meine japanische Sicht ist insofern keinesfalls authentisch, trotz des Faktums, daß ich in Japan geboren und aufgewachsen bin. Meine japanische Brille ist aber kein Instrument, das man einfach in einem Laden kaufen kann. Ich kann sie auch nicht nach Laune aufsetzen oder abnehmen. Diese Brille ist durch meine Augenschmerzen entstanden und wuchs in mein Fleisch hinein, so wie mein Fleisch in die Brille hineinwuchs.

Ich bin auch eine „eingewanderte Autorin deutscher Sprache“, das heißt, ich bin eine Autorin, in deren Körper die deutsche Sprache eingewandert ist. Die eingewanderte Sprache hat in mir einige neue Menschen wachgerufen. Seitdem habe ich in mir verschiedene Wesen, die sehr unterschiedlich sind. Beim Schreiben versuche ich oft, Differenzen differenzierter wahrzunehmen. Dafür ist es gut, daß ein Mensch gleichzeitig aus mehreren Menschen besteht und nicht einer Kultur zuzuordnen ist. Ich hoffe doch sehr, daß „im nächsten Jahrtausend“ noch die Literatur der Eingewanderten existiert.

Omar Saavedra Santis

Chilene, Jahrgang 1944. Er studierte Schauspiel, Medizin und Journalistik . Seit 1974 lebt er in Deutschland. Letzte Veröffentlichungen: „Die Kunst des Kochens“, Erzählung, Berlin, 1983; 1996 erscheint „Das Buch der Verbote“, Roman.

Des öfteren werde ich gefragt, in welcher Sprache ich schreibe. Früher, am Anfang meiner sehr langen Zeit unter den Deutschen, hatte meine unbedachte Antwort einen leichten, doch unmißverständlichen Hauch sarkastischer Ungeduld. In welcher Sprache, um Gottes willen, sollte ich mich zu artikulieren versuchen, wenn nicht in der einen! Damals meinte ich damit, einfach das mit der süßen Muttermilch in uns hineingesogene Wort. In meinem Fall – das spanische. Genauer: das spanisch-kastilische. Noch genauer: das spanisch- kastilische Wort, inzwischen unwiderruflich mit einer kupfergrünen, einheimischen, chilenischen Patina überzogen.

Heute, fast ein Vierteljahrhundert danach, ist das Deutsche – sowohl im tradierten als auch im buchstäblichen Sinne – meine Stiefmuttersprache geworden. Unsere Beziehungen, anfangs äußerst gespannt, haben sich allmählich beruhigt. Nach Jahren voll peinlicher Mißverständnisse, dreister Demütigungen und wüster Beleidigungen sind wir beide, es und ich, zu dem weisen Entschluß gekommen, daß es statt des sturen, fruchtlosen Versuches, sich gegenseitig zu überrumpeln, das Beste sei, so etwas wie ein Kooperationsabkommen zu unterzeichnen. Das mag vielleicht zu nordisch-kühl klingen, aber ich ziehe es jeder überschwenglichen Selbstzufriedenheit vor. Wie dem auch sei, haben wir, sie – die deutsche Sprache – und ich – der Fremde – zwar mühsam, aber endlich gelernt, vorsichtig miteinander umzugehen. Auch wenn wir deshalb längst nicht ein Leib und eine Seele geworden sind. Sie läßt sich von mir ab und zu sittlich karessieren, ohne aber jemals intim zu werden.

So war ich und bin kein „eingewanderter Autor deutscher Sprache“. Dafür sind wir, das Deutsche und ich, uns wirklich zu spät begegnet. Hätte ich vor 20 Jahren, zur Zeit unserer ersten, zufälligen Berührung, die Jahrzehnte währen sollte, 20 Lenze weniger gehabt, nun, dann vielleicht. Meine schriftstellerischen Anstrengungen werden sich daher (abgesehen von einigen kleineren Aufsätzen, die ich mit der sensiblen Unterstützung meiner nichtdeutschen Frau in Deutsch gelegentlich verfasse) weiterhin im Raum meiner „ersten“ Sprache abspielen. Allein in ihren Dimensionen fühle ich mich heimisch genug, um solche Erkundungsreisen in jene prodigiöse Wirklichkeit auf der anderen Seite des Spiegels zu wagen, die wir der Schlichtheit wegen Literatur nennen.

Ohne die eigentümlichsten, unverwechselbaren Gesichtszüge jeder Sprachkultur in Abrede zu stellen, gibt es bekanntlich nirgendwo vakuumdichtverschlossene Sprachen, die ausschließlich fürs Denken, Dichten, Hausieren, Führen oder fürs Beten auserkoren sind. Nicht einmal das vermeintlich tote vatikanische Latein! Dank der unerbittlichen Rundheit der Erde und, nicht zuletzt, dank der efeuartigen Verbreiterungskraft des gesamten literarischen Wortes befinden sich genaugenommen alle geschriebenen und gesprochenen Sprachen in einer stetigen, unvermeidlichen Wechselbeziehung.

Natürlich hat die langjährige Bekanntschaft mit dem und den Deutschen meine Themen und das Spanisch-Kastilisch-Chilenische, mit dem ich sie literarisch zu gestalten versuche, nicht unwesentlich beeinflußt. Das gehört nun mal zur polyphonen Poetik der Ferne. Ich betrachte dies insgesamt als einen großen Gewinn für mich, als eine in vielen Hinsichten ergiebige Erweiterung von Ausdrucksmöglichkeiten. Nur, ich wünsche mir, ich könnte sie gieriger und feinsinniger ausschöpfen. Wie bei jedem intensiven Liebesakt sind die möglichen Einbußen, die beim Geben und Nehmen, bei der Paarung vom Eigenen und Fremden entstehen können, eher nostalgischer Natur. Ergo sind sie auch ein unverzichtbarer, stimulierender Bestandteil noch nicht erfüllter Träume.

An dieser Stelle muß ich den tiefen Neid gestehen, den ich für die zwei- oder mehrsprachigen Autoren empfinde, für jene, die in der privilegierten Lage sind, nicht nur zwischen unterschiedlichen Welten mühelos hin und her zu pendeln, sondern vor allem diese auf wundersame Weise zu verbinden. Es ist eine immense Chance für jede Literatur, auch (oder insbesondere?) für die deutsche, mit dem Wirken und Bewirken von solchen Autoren rechnen zu dürfen. Einfach deshalb, weil sie eine Sehhilfe darstellen: den anderen Blick aus den höheren Etagen des Turms von Babel.

Kemal Kurt

1947 in der Türkei geboren und lebt seit 1975 in Berlin. Er schreibt Gedichte, Erzählungen, Kindergeschichten, Hörspiele, Features, Essays und stellt Fotografien aus. Letzte Veröffentlichungen: „Was ist die Mehrzahl von Heimat?“, 1995, und „Wenn der Meddah kommt“, Kinderbuch, 1995.

1. Von Konjunktur kann keine Rede sein. Bis auf einige wenige Ausnahmen werden die Bücher eingewanderter Autoren von der etablierten Literaturkritik nicht wahrgenommen, der Leserkreis ist klein, und die Verkaufszahlen sind gering. Migranten(!)literatur ist bis heute eine marginale Erscheinung geblieben. Die Autoren suchen noch – nach Sitzplätzen, nach freien Stühlen, nach Ritzen. Die Suche wird aufhören, wenn man keinen gesonderten Namen mehr für sie hat. Aber sitzen heißt nicht einsacken! Und fehlende Stigmata sind weder Namen- noch Farblosigkeit. Jeder Autor und jede Autorin unterscheidet sich im Idealfall von Kollegen und Kolleginnen in der Themenwahl, dem Erzählduktus, der Originalität und im Umgang mit der Sprache – je mehr, desto besser. Aber Kasten, Klassen und Kategorien können wir nicht gebrauchen. Denn es gilt: A writer is a writer is a writer...

2. ...oder, wie gesagt, einfach ein Schriftsteller – einer, der hoffentlich souverän genug ist, sich seinen Stoff weder aufzwingen noch ausreden zu lassen. Auch eingewanderte Autoren sind nicht alle aus dem gleichen Holz, man kann ihnen allen nicht die gleichen Motive unterstellen oder sie auf einen Standort festschreiben. Das wäre genauso absurd, wie wenn man nichteingewanderte Autoren oder Autoren deutscher Muttersprache alle mit gleichen und gleichbleibenden Worten beschreiben wollte. Was mich angeht, will ich manchmal dies und manchmal das, aber meistens alles.

3. Uns wird es bestimmt geben, aber jeden unter einem anderen, dem eigenen Namen. Die Erzählfreude, die Faszination an der Sprache und auch Themen werden bleiben, aber die verallgemeinernden Bezeichnungen und Bezichtigungen, Grenzen andeutend, wo keine sind, werden verschwinden. Es geht doch alles relativ schnell. Vor dreißig Jahren hat man nichts von unserer Existenz geahnt. Vor fünfzehn Jahren, vor zehn noch, wurden wir mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Wenn die Verwunderung aufhört – das ist die nächste Etappe – werden wir unseren Platz einnehmen. Mein Weg dahin und die Richtung ist klar: links, rechts und geradeaus.

José F.A. Oliver/Foto: R. Weber

Adel Karasholi/Foto: privat

Gino Chiellino/Foto: privat

Ota Filip/Foto: privat

Franco Biondi/Foto: privat

Sinasi Dikmen/Foto: privat

Yoko Tawada/Foto: Peter Peitsch

Omar Saavedra Santis/Foto: privat

Kemal Kurt/Foto: Hildegard Kurt

Antwort zu Frage 1: „Ja!“

Antwort zu Frage 2a: „Wo der Schreibtisch steht!“

Antwort zu Frage 3a: „Ja, warum denn nicht?!“

Antwort zu Frage 3b: „Den satirischen Weg, immer der Nase lang!“

1960 geboren, und seit 1973 in Deutschland

Bisher veröffentlichte Bücher: „Deutschling“, „Alle Dackel umsonst gebissen“, „Der Spermüll-Efendi“, „Alles getürkt“, „Dütschlünd, Dütschlünd übür üllus“

taz lesen kann jede:r

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