: Post vom weisen Weltenbummler
■ Wieder im Kino: „Sans Soleil“ von Chris Marker
Stellen Sie sich vor, sie bekommen Briefe von einem in der Welt herumreisenden Freund. Briefe voller Bilder, Töne und Ideen, in denen er Ihnen seine intensivsten Eindrücke, seine Reflexionen über das Gesehene und seine erstaunlichen Fundstücke schickt. Denn dieser Freund ist nicht irgendein Globetrottel, sondern ein begnadeter Reisender. Er beherrscht die Kunst des neugierigen Flanierens, ist belesen und kann vorallendingen hochintelligent und mit originellem Witz von seinen Reiseerlebnissen berichten. Solche Post würden Sie gerne in ihrem Briefkasten finden ? Dann freuen sie sich auf Chris Markers „Sans Soleil“, denn der französische Dokumentarfilmer hat seinen Film als solch eine Folge von Briefen konzipiert, und er läßt den fiktiven Autor dieser Reiseimpressionen so sympathisch, klug und spannend erzählen, daß er dem Zuschauer schnell zum Freund wird.
Auf seinen jahrelangen Fahrten kreuz und quer über den Globus hat Chris Marker gelernt, „nur noch auf das Alltägliche“ zu achten, und so zeigt er uns wie die Marktfrauen auf dem kapverdischen Inseln jeweils nur für Sekundenbruchteile in die Kamera schauen, wie in Japan eine Zeremonie für die Seelen der verstorbenen Katzen abgehalten wird, oder wie drei Kinder auf einem isländischen Landweg spielen. Diese kurze Einstellung ist für ihn „das Bild des Glücks“, aber er weiß, das es ihm unmöglich ist, diess auch gefühlsmäßig zu vermitteln. Deshalb zeigt er direkt danach einige Sekunden Schwarzfilm, denn so „kann man wenigstens das schwarz sehen.“ Diese Skepsis seinen eigenen Bildern, Tönen und Texten gegenüber hat Marker zu einem der Leitmotive seines Films gemacht. Er sagt dabei nicht, daß alle Bilder nur in die Irre leiten, sondern er hofft darauf, spielerisch eine Annährung von Abbild und Wahrheit zu finden.
Deshalb hat er seinen Film auch so geschnitten, daß die Bilder den oft sehr sprunghaften Assoziationen des Briefschreibers folgen. Auf eine Trauerzeremonie für die gestorbenen Tiere des Zoos von Tokio folgt etwa direkt die schockierende Sequenz vom qualvollen Tod einer Giraffe, die im afrikanischen Busch erschoßen wird.
Keine Angst: dies sind keine schwer zugänglichen formalistischen Spielereien, bei denen man sich angestrengt fragen muß, was man da überhaupt auf der Leinwand sieht. Marker hat den Film zwar so kompliziert konstruiert, daß „ein ganzes Buch nötig wäre, um alle Fäden zu entwirren“ (so Kritiker Henry Shedan), aber zugleich sind all diese Partikel so in Leben getränkt, daß man Marker gerne in die entlegensten Winkel seiner Gedankenreisen folgt. „Nichts zu verstehen erhöht eindeutig den Genuß“ sagt Marker selber einmal augenzwinkernd über seine eigene Faszination vom japanischen Fernsehen.
Marker liebt es, seine Zuschauer mit merkwürdigen Abstechern zu überraschen. So pilgerte er zum Beispiel in San Franzisko zu allen Drehorten von Hitchcocks „Vertigo“, zeigt von einer Insel im Pazifik nichts weiter als streunende Hund am Strand und stellt uns einen japanischen Imbißbereiber als Meister im „action-cooking“ vor, bei dessen Arbeit an der Bratpfanne man „über die Grundbegriffe nachdenken kann, die Malerei, Philosophie und Karate gemeinsam haben.“
Am Schluß zeigt er uns nocheinmal die Aufnahme von den drei spielenden Kindern, und nun ist uns sein Blick so vertraut geworden, daß wir tatsächlich das Glück in diesem ganz alltäglich Bild erahnen können.
Wilfried Hippen
Kino 46 heute um 18.30 Uhr und morgen um 20 Uhr im Institut Francais / Französische Originalfassung mit Untertiteln
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