: Die Ausnahme wird regelmäßiger
■ Immer mehr Menschen wählen per Brief. Sie bekommen die Unterlagen zu spät, wählen bürgerlich, verfälschen Hochrechnungen und stimmen oft ungültig
Immer mehr Berliner machen den Briefkasten zur Wahlurne. 10,8 Prozent der Wahlberechtigten forderten bis zum Ablauf der Frist am Freitag abend Briefwahlunterlagen an. Als die Stimmabgabe per Post 1967 eingeführt wurde, waren es nur 4,4 Prozent gewesen.
Auf das Ritual des sonntäglichen Urnengangs pfeifen nicht allein die Nichtwähler. „Wer weiß, was ich am 22. Oktober mache“, lautet inzwischen die häufigste Begründung von Briefwählern, „da gehe ich lieber auf Nummer Sicher.“ Den erforderlichen Wahlschein bekommt aber eigentlich nur, wer „aus wichtigem Grunde“ auswärts weilt, nach einem Umzug noch nicht ins neue Wählerverzeichnis eingetragen ist oder „seines körperlichen Zustands wegen den Wahlraum nicht aufsuchen kann“. So steht es in der Landeswahlordnung. In der Praxis freilich ist keine Begründung vonnöten. Eine solche zu verlangen, fände Landeswahlleiter Günter Appel „nicht ratsam“, weil sie sich ohnehin nicht nachprüfen ließe. „Wie wollen Sie das machen in einer freien Gesellschaft?“
Die Flut der Wahlunterlagen überfordert inzwischen auch die Post. Sie trafen in zahlreichen Fällen nicht mehr rechtzeitig ein. Wie viele Wähler davon betroffen sind, weiß Appel nicht genau, mehrere hundert sind es aber in jedem Fall. Sie konnten ausnahmsweise bei den Bezirkswahlämtern Ersatzwahlscheine beantragen und an Ort und Stelle wählen. Daß eine privatisierte Post zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben nicht mehr herangezogen werden könne, glaubt Appel dennoch nicht. „Die Post hat das schon immer nur als Geschäft verstanden.“ Die Zustellprobleme müßten aber dringend abgestellt werden. „Jeder einzelne Fall ist ein Problem. Da kommt man schon ins Grübeln.“ Denn wegen der Pannen könnte die Wahl möglicherweise angefochten werden.
Der Trend zur Briefwahl wirft aber auch grundsätzliche Probleme auf. Wenn die Wähler ihre Stimme bis zu sechs Wochen vor dem Wahltag abgeben können, „wird die Fiktion des einheitlichen Wahltermins aufgehoben“, meint Matthias Jung von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen. Wenn in der Zwischenzeit einschneidende Ereignisse für einen Stimmungsumschwung sorgen, läßt sich die Entscheidung nicht mehr korrigieren.
Um einige Prozentpunkte überhöht sind bei den Briefwahlstimmen die Anteile der bürgerlichen Parteien CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dem entspricht es, daß in bürgerlichen Bezirken der Anteil der Briefwähler höher ist, wärend der Wedding das Schlußlicht bildet. Der Rückstand des Ostens dagegen, wo noch 1990 fast alle Wähler persönlich zur Urne schritten, ist inzwischen aufgeholt. Die ungleiche Verteilung der Parteipräferenzen erschwert auch das Geschäft der Demoskopen. Obwohl sie die Abweichung bei den Hochrechnungen berücksichtigen, erhöht sich doch die Fehlerquote.
Für prinzipiell verfassungswidrig hält die Briefwahl inzwischen niemand mehr. Der Gesetzgeber habe bei der Durchführung von Wahlen einen „weiten Gestaltungsspielraum“, argumentierte das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung von 1967. Das Wahlgeheimnis und die Freiheit der Wahl seien daher nicht beeinträchtigt. Schließlich könnten die Briefwähler selbst dafür sorgen, daß ihnen beim Kreuzchenmachen niemand über die Schulter schaut oder sie anderweitig beeinflußt. Um die Geheimhaltung zu sichern, darf der Wahlschein aber auf keinen Fall in den verschlossenen Umschlag mit dem Stimmzettel gesteckt werden. Diese Prozedur scheint viele Wähler zu überfordern. Der Anteil der ungültigen Stimmen ist bei der Briefwahl doppelt so hoch als sonst.
Auch denen die Stimmabgabe zu ermöglichen, die nicht persönlich ins Wahllokal kommen können, könne durch den Grundsatz der allgemeinen Wahl sogar geboten sein, argumentierten die Karlsruher Richter. Sie betonten aber, der Gesetzgeber habe die Briefwahl „nicht unbeschränkt und unbedingt“ zugelassen. Die Richter konnten damals nicht voraussehen, daß das postalische Votum zum Breitensport würde. Bei einer weiteren Ausweitung der Briefwahl, meint Wahlleiter Appel, könnte das Verfassungsgericht seine Haltung überdenken. Daher appelliert Appel an die Berliner, am Wahltag persönlich zur Urne zu gehen. Ralph Bollmann
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