: Sauber gefugt, schalldicht getäfelt
Gedenktraining: Christoph Marthaler inszeniert in Hamburg formelhafte Reden zur „Stunde Null“ ■ Von Kai Voigtländer
Hart ist das Leben der deutschen Idealführungskraft. Der einheitsgraublaue Anzug kneift im Schritt, das Sakko spannt, der Hemdkragen scheuert am Adamsapfel, kurz: der ganze Körper sitzt irgendwie schief, und dennoch sollen die Herren der Geschichte eine stramme Figur abgeben. Gedenkreden gilt es zu halten, an den Jahrestag des Kriegsendes zu erinnern, Appelle an die Jugend zu richten, sie aufzurütteln „in dieser Stunde des Gedenkens, meine Damen und Herren“. Gedämpft und unscharf soll von Schuld die Rede sein („In diesen zwölf Jahren war fast ein ganzes Volk bis auf den Grund seiner Seele verdorben!“), doch dann richten wir unverdrossen den Blick in die Zukunft: „gesicherten Frieden erfüllte Welt zurückführen allen Völkern“.
Das gesamtdeutsche Gedenk- Blabla, in Formeln erstarrt und bis zum Überdruß zelebriert in den Jahren zwischen Null und 50 nach 1945. Die finale versöhnende Rede aber schüttelt auch eine Führungskraft nicht aus dem Sakkoärmel – sie muß geübt werden. Dazu die passende Haltung beim Trauern, die joviale Gestik beim Bad in der Menge und der würdevolle Schritt über den roten Teppich natürlich auch. Sechs Herren hat Übungsleiter Christoph Marthaler zu einem Gedenktraining für Führungskräfte versammelt. Sie schwitzen und schwafeln abwechselnd im Trainings- und im Straßenanzug, sie geben deutschestes Liedgut sowie schmierige Herrenwitze zum Besten. Manchmal schluchzen sie auch, besonders wenn sie „O Täler weit, o Hö-hö-hen“ gesungen haben. Das geht dem Mann ans Herz, doch wenn man ihm ein Pfeifchen zwischen die Lippen schiebt, dann wird er wieder zufrieden und nuckelt still vor sich hin.
Die Stunde Null, eine ältliche Kellnerin mit Trillerpfeife serviert den Pausenkaffee und kontrolliert die Lernfortschritte der Herren. Am Anfang dieses zeitlos sich dehnenden Marthaler-Abends kommen sie alle unter die Meßlatte, werden gedeckelt und vermessen. Wer eine Frage stellen möchte, bekommt von Frau Stunde Null eine Ohrfeige serviert. Aus den Seitenwänden ragen Mikrophone an kurzen Stativen, hier üben die Herren vielstimmig ihre Gedenkreden. Wenn die Klingel ertönt, wechseln sie Plätze und Texte. Ein Rotlicht an der Wand gibt den Einsatz.
Anna Viebrock hat eine betörend kluge Bühne gebaut: einen hohen, schalldicht getäfelten Raum, ein Meisterwerk der frühbundesrepublikanischen Einbautischlerei. Das Radio eingelassen in die Wand, Waschbecken und Kleiderkammer sind versteckt hinter furnierten Türen. Und es gibt – Gipfel der Einbaukunst – tatsächlich einen Einbauflügel, auf dem der Saalpianist den Führungskräften leise Weisen spielt. Mit dieser holzvertäfelten Einbauorgie schafft Anna Viebrock weit mehr als nur eine gut funktionierende Spielfläche. Sie findet ein unaufdringlich überzeugendes Bild für Atmosphäre und Psychodynamik der deutschen Nachkriegsgesellschaft, für die zwanghafte Inszenierung glatter Oberflächen, durch deren saubere Fugen nichts dringt, hinter deren gut schließenden Türen man schmutzige Wäsche wie jeglichen Seelenunrat verschwinden läßt. Vertäfelt, vergessen, verdrängt – der Dreischnitt deutscher Vergangenheitsbewältigung im Wohnzimmer.
In diesem bürgerlichen Bunker persifliert Christoph Marthaler mit genauem Blick und mit Hilfe eines wunderbar skurrilen Ensembles die Rituale und Sprachhülsen der berufsmäßigen Wiederaufbauer und der Verwalter des Gedenkens. Oft ist das zum Brüllen komisch: etwa, wenn die Führungskräfte in Turnhosen „Autobahnabschnitt- dem-Verkehr-Übergeben“ üben, im Takt mit der Schere rotweißes Flatterband durchteilen, mit würdevoller Miene auf den Mikrophonwald zusteuern – und dann abdrehen, um sich wieder am Ende der Riege einzureihen. Die verschwiemelte Atmosphäre einer reinen Männergesellschaft, die Knüffe aus dem Hinterhalt, die sexuelle Ödnis unterm Doppelripp, die sich beim schnellen Griff zur Schürze der Serviererin entlädt, das Unbehaustsein in den eigenen Körpern, das verkrampfte Pathos der Gedenkreden – aus diesen Anschauungsstückchen komponiert Christoph Marthaler sein Sittenbild der deutschen Bewältigungskultur. Wo andere wütend um sich schlagen, bleibt er ganz leise – und läßt die bürgerliche Welt im Schlaf zu Staub zerbröseln.
In einer endlosen Slapstick- Nummer betten sich die Herren zur Nacht – viertelstundenlang und immer müder werdend, plagt sich jeder mit seinem zusammenklappenden, unter ihm wegbrechenden, ausweichenden oder abknickenden Bettgestell. Fassungslos vor Gelächter beobachtet man ihr stoisches Bemühen – und begreift, wie ungeheuer sich der deutsche Nachkriegscharakter anstrengen mußte, um zur Ruhe zu kommen.
„Die Stunde Null oder die Kunst des Servierens“, von Christoph Marthaler, 2., 9., 23. und 27. 11., Deutsches Schauspielhaus Hamburg.
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