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Staatsräson findet statt, Zensur ist gar nicht nötig

■ „Einheitliches Denken“ und Staatsnähe haben in französischen Medien Tradition

Beinahe 2.000 Wissenschaftler haben den Aufruf unterschrieben, hochkarätige Leute aus der Grundlagenforschung in Spezialbereichen wie Nuklearchemie und Nuklearmedizin. Sie fordern das Ende der französischen Atomtests und die Vernichtung des atomaren Zerstörungspotentials. Harry Bernas, Physiker an der Universität Orsay und einer der Initiatoren des Aufrufs, ist weltweit durch die Medien gegangen – nur daheim fand die Aktion kaum Widerhall.

Den Wissenschaftler wundert das nicht. „Das ist das einheitliche Denken“, sagt er lachend. Die Journalisten seien mehrheitlich überzeugt, daß die Force de frappe, die atomare Streitmacht des Landes, notwendig sei. Kritik daran transportierten sie genausowenig wie an anderen französischen Institutionen. Eine Zensur sei gar nicht notwendig, um die Veröffentlichung unliebsamer Informationen zu verhindern.

Die Staatsräson zieht sich durch fast alle Medien. Und sie zeigt sich bei fast allen Themen: von der Atombombe bis zur Bestechlichkeit. Als Präsident Chirac im Juni seine Absicht kundtat, die Atomtests wiederaufzunehmen, machte er das vor einer ausgewählten Schar von Journalisten. Die live im Fernsehen übertragene Pressekonferenz aus dem Elysee-Palast machte deutlich, warum: Keiner der Anwesenden stellte kritische Fragen, niemand fragte, wer und wo der Feind sei, den es abzuschrecken gelte.

Enthüllungsjournalismus gibt es kaum

Die Meldung über die neuen Atombombentests wurde in Frankreich sofort zum großen Thema. Aber kritische Töne brachten erst die weltweiten Proteste und die internationale Boykottdiskussion in die französische Berichterstattung. Als absehbar war, daß die Kritik nicht von allein wieder verstummen würde, lud das Verteidigungsministerium Journalisten auf die Testinseln ein. Tagelang brachten Fernsehen und Zeitungen daraufhin Bilder von einsamen Sandstränden in dem Testgebiet. Der Figaro druckte noch Wochen später Landkarten und Statistiken aus der dicken Pressemappe nach, die das Militär für die Journalisten zusammengestellt hatte, ohne die Quelle zu nennen. Unter anderem erfuhren die Figaro- Leser, daß Moruroa viel weniger dicht besiedelt ist als die russischen und US-Testgebiete und daß Sydney weiter von Moruroa entfernt liegt als Los Angeles.

Französische Journalisten lernen ihr Metier in der Regel in unabhängigen Schulen. Trotzdem ist die Meinung weit verbreitet, daß Journalisten nicht unabhängig, ja daß sie sogar korrupt sind. Zu diesem schlechten Ansehen tragen ganz wesentlich einige Vertreter des Berufsstands bei. An erster Stelle der Fernsehjournalist Patrick Poivre d'Arvor, der kürzlich wegen Bestechlichkeit verurteilt worden ist. Er hatte sich jahrelang von der Lyoner Botton-Unternehmensgruppe, die gleichzeitig einen konservativen Politiker unterstützte, Reisen schenken lassen.

Im Fernsehen hat die Staatsnähe Tradition. Ältere Journalisten wissen noch von der direkten Telefonleitung des einzigen Nachrichtenprogramms zum „Kommunikationsminister“, der kritische Informationen vorab zensierte. Doch obwohl François Mitterrand 1981 den Äther liberalisierte und zahlreiche neue und wirtschaftlich unabhängige Radio- und Fernsehsender entstanden sind, gibt es kaum Enthüllungsjournalismus.

Wenn doch mal jemand nachfragt, statt die jüngsten Verlautbarungen eines Ministers wiederzugeben, erfährt die Öffentlichkeit Überraschendes. So fand kürzlich ein Journalist der Zeitung Infomation heraus, daß man mit 10.000 Mark Schmiergeld in wenigen Tagen eine Sozialwohnung bekommen kann, auf die Normalbürger jahrelang warten. Es geht dabei um Luxuswohnungen, die der Stadt Paris gehören und von dieser nach Gutdünken vermietet werden. Premier Alain Juppé hatte sich und seinen Familienangehörigen solche Wohnungen beschafft. Weil es publik wurde, müssen die Juppés jetzt ausziehen. Die komplette Liste der Begünstigten ist indes immer noch nicht veröffentlicht. Bekannt ist nur, daß neben Politikern auch prominente Journalisten darauf stehen. Dorothea Hahn, Paris

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