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Absolut kein Sehfehler

Der Mont St. Victoire auf CD-Rom – Sonnenlicht wie noch nie. Die Pariser Ausstellung „Cézanne als Wegbereiter der Malerei“ ist von Anfang an ein Publikumsmagnet gewesen  ■ Von Sylvia Nagel

Klick, klick, klick – der Totenkopf erscheint in überdimensionaler Größe auf dem Bildschirm. Nochmals klick, klick, und schon ist wieder das gesamte Bild „Trois crÛnes sur un tapis d'Orient“ (Drei Totenköpfe auf einem Orientteppich) auf dem CD-Rom-Display zu sehen. Der junge Besucher in der Pariser Cézanne-Ausstellung im Grand Palais, der sich den Totenkopf einmal ganz aus der Nähe ansehen wollte, überläßt anderen in der Retrospektive das Feld, die 100 Jahre nach Cézannes erster Ausstellung in der Galerie Vollard stattfindet und seine erste Gesamtschau nach 1936 darstellt.

Draußen vor der Tür stehen Zweierreihen von Besuchern geduldig bis zur Ecke des Square Jean Perrin. Sie wollen die 180 Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen Cézannes, die aus aller Welt zusammengetragen worden sind, sehen. Ein großes und vor allem teures Unterfangen, denn die Bilder aus New York, Chicago, Berlin oder London wollen versichert sein, was heute nur durch Mäzene wie Moät Hennessy, Louis Vuitton oder Christian Dior zu finanzieren ist.

„Cézanne als Wegbereiter der modernen Malerei“ war schon in ihren ersten Tagen ein Publikumsmangnet. Die Massen von Besuchern wollen, anders als ihre Vorfahren um 1900, Gemälde eines ganz Großen der französischen Malerei bewundern. So flanieren sie durch die Säle des Grand Palais, verharren kaum Minuten vor einem Gemälde, um gleich zum nächsten zu eilen. Cézanne ist populär.

Anders 100 Jahre früher. Damals wurde Cézanne für seine Stilleben mit den geneigten Flaschen und konkaven Äpfeln gerügt. Manche Kritiker behaupteten sogar, dieser Maler müsse etwas mit den Augen haben. Inzwischen gilt Cézanne als zentrale Künstlerfigur, an der sich das 20. Jahrhundert messen mußte: Er hatte den Impressionismus überwunden und war sowohl für die Fauves als auch für die Kubisten Vorbild gewesen. Gaugin, Picasso, Matisse, Franz Marc, Klee oder Kandinsky – sie alle beriefen sich auf diesen Vorreiter der Moderne. So dienten unter anderem „Die vier Badenden“ (1888-1890) Matisse als Vorlage für „La joie de vivre“ (Die Lust am Leben, 1905/06) oder Picasso für die „Demoiselles d'Avignon“ (1907).

Vor allem diesen Werdegang von der Emanzipation zur Wegbereitung für andere will auch die Retrospektive nachzeichnen. Entsprechend wurde eine chronologische und thematische Gruppierung der Bilder gewählt. Nicht immer ganz glücklich, wenn man Gemälde mit gleichem Thema miteinander vergleichen möchte. Ein Beispiel: die Badenden. 250 Bilder Cézannes nehmen dieses Thema auf, 17 davon sind in Paris zu sehen, allerdings quer durch die Ausstellung verteilt. Schwierig, sich immer wieder an das soeben Gesehene zu erinnern und im Gedächtnis zu vergleichen oder Unterschiede zu finden. Gerade das aber war Anliegen Cézannes. So wie er häufig Motive wählte, die ihn am meisten faszinierten, wollte er sich im Malen auch über seine Malerei vergewissern. Die Leinwand galt ihm als eine selbständige Welt mit ihren eigenen Gesetzen, die wichtiger sind als die Gesetze der Natur. Gegenstände wurden erst zu etwas, indem er sie malte. Darin sah er seine Aufgabe.

Bester Beleg: der besagte Mont Sainte-Victoire. 16 Varianten dieses Berges sind in Paris zu sehen. Mal als Ölgemälde, mal als Zeichnung, mal als Aquarell. Mal vom ChÛteau-Noir, mal von der Lauves, mal von Bibémus aus gesehen. Immer wieder versuchte Cézanne, diesen Berg im Bild zu erobern, ihn zu erklimmen, ihn zu besitzen. Die unterschiedlichen Lichtverhältnisse, die differierende Atmosphäre – alles wollte er festhalten.

Cézanne und ein Sehfehler? Die Pariser Retrospektive straft dieses rund 100 Jahre alte Urteil Lügen. Die Stilleben oder auch die Porträts von Freunden oder seiner Frau und seinem Sohn scheinen dazu aufzufordern, sich mit den Gemalten zu unterhalten. Sie sprechen an. Die Personen leben wieder auf beim Betrachter, nicht wegen ihrer möglichst realistischen Darstellung, sondern im Spiel der Farben. Das haben auch Picasso und seine Zeitgenossen gewußt, als sie Cézanne im Herbstsalon von 1904 endlich mit 81 Gemälden ehrten.

Und heute? Die Besucher sind sich, so scheint es, der grandiosen Aussagekraft Cézannes nur annähernd bewußt. Eher streben sie doch zügig durch die zahlreichen Säle des Grand Palais, um am Ende vor einem Medium zu verweilen, daß inzwischen allerorts präsent ist: die CD-Rom. Diese besondere Attraktion der Ausstellung haben sich die Verantwortlichen für den Schluß aufgehoben. Man nehme die Maus und klicke ein Bild der Retrospektive an, und schon erscheint es auf dem gut beleuchteten Bildschirm. Und wenn man noch genauer hinsehen möchte, dann wird ein Ausschnitt vergrößert. Angesichts der von Cézanne mit Bedacht gewählten Farben, mit denen er die Natur, so wie er sie sah, wiedererstehen lassen wollte, ein merkwürdiger Eindruck. Der Mont Sainte-Victoire erscheint plötzlich in einem sehr viel helleren Sonnenlicht als im Original, der Totenkopf ist überdimensional. Die Rekonstruktion des Gemalten, die beim intensiven Betrachten gelingen kann, wird hier negiert, die historische Distanz mit der Maus vom Bildschirm gewischt. Sylvia Nagel

Cézanne – Au tournant de la modernité, bis 7. 1. 1996 im Grand Palais, Paris. Weitere Stationen: vom 8. Februar bis 28. April in der Londoner Tate Gallery und vom 26. Mai bis 18. August in Philadelphia im Museum of Modern Art.

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