: Modische Optionen
■ betr.: „Den Körper zerbrechen“ (Rede von Durs Grünbein), taz vom 23. 10. 95
Durs Grünbeins Rede zum Büchner-Preis – ein Lobgesang auf die „somatische Poesie“, die nach Einschätzung des Geehrten ihn selbst mit den Namensgeber verbinde.
Ich habe da so meine Zweifel. Was Büchner um 1820 zweifellos mit seinem neugierig entsetzten Blick einer von Ideen und Idealen verhangenen Menschenbildnerei à la Schiller entgegenhielt, nämlich das bildlose Existieren des Ich als Körper: Das dürfte heute eher als eine der letzten Ressourcen für poetisches Funkenschlagen gelten: wo nichts mehr die Aufmerksamkeit im kulturellen Foyer erheischen kann, da ist dann doch noch immer der Körper und seine sprachlose Präsenz, die Kunstsprache evoziert. Neu ist das nicht – wie schon die frühen Gedichte von Gottfried Benn dokumentieren.
Eine andere Überlegung sollte hier die Grünbeinschen Optionen fürs Körperinnere besser ins Licht rücken. Michel Foucault hat in seinem Nachwort zur „Geburt der Klinik“ darauf hingewiesen, daß die moderne Medizin nicht nur ihren Ausgang in den Kellern der anatomischen Pathologie nahm, sondern daß die dort geübte Praxis auch maßgeblich unseren modernen Begriff des Individuums prägt. Was unter dem „Haifischauge“ (Foucault) des Chirurgen an vereinzelten Organen okular herauspräpariert wird, bestimmt unser aller Sichtweise vom lebenden Individuum. Es ist nämlich dann das, was noch funktioniert – und dies Funktionieren allein trennt es vom toten Körper. Das ist – wie jeder weiß – sehr sehr wenig an Unterschied zwischen Leben und Tod. Foucault sah nun auch die Kunst und die Poesie im Schlepptau dieser Engführung der Leibeserfahrung, wenn schon die Spätromantik so gierig wie defensiv eine Aureole aus Morbidität um den aufgeschnittenen Körper legt und so nachträglich abfeiert, was der Objektivismus der Medizin dem auf den Körper reduzierten Menschen antut.
Dies ist nun zwar sicher ein Argument gegen Schiller und Hegels Idealismus – aber die junge Garde der somatisierten Poeten, die nun wie unser Durs ganz wild in medizinischer Terminologie macht und im Sumpf latinisierter Arzt-Zynismen watet, sollte sich daran erinnern, daß das Haifischauge des Pathologen – und sei es in poetischer Abdunkelei – kaum die Grundlagen für egalité bereitstellt – und ausgerechnet aus dem Inneren des Körpers ein humanes Konzept gegen die von ihm so geschmähte Geschichtsphilosophie, Sozialismus and all that Jazz abgeleitet werden könnte.
Da hört der Zeitkundige ganz andere Töne heraus, als die Schmerzenschreie der Kreatur Woyzeck. Schon die Art, wie der Preisträger in seinem jüngsten Lyrikband die Körperentdeckungen in ein neues bildungsbürgerliches Muster hineinstrickt, läßt erahnen, wohin die Reise wirklich geht. Durs Grünbein ist nicht zufällig der Günstling der FAZ und des Vorzeige-Apokalyptikers Heiner Müller (nun auch der taz?)
Wenn er und andere denn wirklich so körpernahe wie reflexive und humane Lyrik aufzufinden suchen, so seien sie auf Spätgedichte von Paul Celan verwiesen. Die sind noch nicht so angeturnt von modischen Optionen und polit-kulturellen Wendemanövern. Werner Köhne, Köln
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