: „Seien Sie kein Held, Sir!“
Sie werden in Fallen gelockt, bedroht, von verzweifelten Zivilisten beschimpft. In Südfinnland können künftige Militärbeobachter der UNO üben, wie sie beim Einsatz zwischen den Fronten einen kühlen Kopf behalten ■ Aus Niinisalo Christian Semler
Martti Kotilainen, Signaloffizier bei der finnischen Armee, kneift die Augen zusammen und fährt mit dem behandschuhten Finger über die Stabskarte des Manövergebiets. „Sie verfahren sich tatsächlich, die Armen“, flüstert er und stellt den Motor ab. 20 Meter vor uns versucht ein Jeep verzweifelt, zwischen gelb-rot abgesteckten Arealen ein Durchkommen zu finden. „Gelb-rot“ – das heißt vermintes Gelände.
Kotilainen und ich, wir sind unsichtbar. Wie sind die Beobachter der Beobachter. In einem riesigen, unübersichtlichen, dicht mit Fichten und Birken bestandenen Gelände im südlichen Finnland nehmen wir an einem Training teil, das eine Gruppe von Militärbeobachtern der UNO, kurz MOs genannt, auf ihren Einsatz vorbereitet. Kotilainen ist im Vorteil. Er hat den Kurs schon vor drei Jahren absolviert. Er ist mir zugeteilt worden, weil er sowieso nichts zu tun hat. Wartet seit Tagen darauf, daß die New Yorker MO-Abteilung das Flugticket Richtung Südlibanon schickt, wo er als Militärbeobachter eingesetzt werden soll. Aber in New York fehlt es an Barem.
Geschickt abkürzend erreichen wir vor dem MO-Jeep eine Kreuzung, wo laut Manöverplan (den wir, nicht aber die Militärbeobachter kennen) ein schwerer Zwischenfall stattfinden wird. Hochgewachsene, burnusgewandete Männer simulieren zwischen den Bäumen Feldarbeit. Eine Frau hält den mittlerweile eingetroffenen MO- Jeep an, bittet um Hilfe. Ihr Auto, es steht 50 Meter weiter an einer Lichtung, sei defekt. Die MOs fahren heran – und sind plötzlich von schwerbewaffneten Einheimischen umringt. Gerade noch kann der Fahrer den Hilferuf „Pam-Pam“ ins Feldradio schreien, da wird er schon mit seinen drei Kollegen aus dem Jeep gezerrt. Die vier MOs müssen sich flach auf den Boden legen, anschließend bis auf die Unterhose ausziehen. Kleider und Wertsachen wandern in einen Plastiksack. Am Schluß müssen sie noch den Autoschlüssel abgeben und dürfen zu Fuß – es ist schon empfindlich kalt – zum nächsten Kontrollpunkt der UNO laufen. Keiner der vier MOs, die mittlerweile einen Zwei- Minuten-Report an die Zentrale abgeben, hat übermäßig gegen den Raubüberfall protestiert. Grund zum Lob durch den Instrukteur: „Den guten Militärbeobachter zeichnet vor allem eine Eigenschaft aus: Er überlebt.“
Oberstleutnant Hannukkala, der Dramaturg des Manövers, kommandiert seit zwölf Jahren das Ausbildungszentrum Niinisalo. Formal ist er, worauf die roten Kragenspiegel hinweisen, der Artillerie unterstellt, faktisch nimmt er seine Befehle vom Verteidigungsministerium in Helsinki entgegen und von niemandem sonst.
Hannukkala und seine Leute bilden die 2.000 finnischen Blauhelme aus, die gegenwärtig im Südlibanon und an den Grenzen Mazedoniens Dienst tun. Kandidaten für Blauhelm-Einsätze müssen den Wehrdienst absolviert haben und über mehrjährige Berufserfahrung verfügen. Die Finnen bringen alles, was sie für die Mission brauchen, selbst mit: Autos, Material, Werkzeuge. Fünf Prozent der Blauhelme sind Berufsoffiziere, der Rest Zivilisten aus allen Berufen. Ihr Kontrakt läuft über maximal ein Jahr, jeweils ein Drittel rotiert nach vier Monaten. Auch viele Frauen bewerben sich, können aber bis jetzt nur als Bürokräfte eingesetzt werden – die finnische Armee kennt keine Ausbildung für weibliche Soldaten. Finnland streckt die Gesamtkosten für die Missionen seiner Blauhelme vor – später zahlt die UNO zurück. Nach Maßgabe des Möglichen.
Die zweite Aufgabe des Zentrums besteht in der Ausbildung von Militärbeobachtern, also just dem Training, an dem ich teilnehme. Der laufende Kurs wird von 48 Berufsoffizieren besucht, viele kommen aus den skandinavischen Ländern, aber auch aus Osteuropa. Sogar ein drahtiger, nur zu bürgerkriegserfahrener Oberstleutnant aus Guatemala ist dabei – mit obligatem Moustache. Die MOs sind grundsätzlich unbewaffnet. Wenn die beteiligten Seiten eines Konflikts sich darauf einigen, überwachen die MOs Waffenstillstandslinien, Pufferzonen, militärisch „verdünnte“ Gebiete und kontrollieren die Einhaltung von Flugverboten. Der militärische Aspekt des Trainings ist zweitrangig, obwohl auch komplizierte Aufgaben wie die Analyse von Einschlagskratern geübt werden. All das, sagt Hannukkala, ließe sich in ein paar Tagen bewältigen. Komplizierter und langwieriger sei es, die Einstellung von Berufsmilitärs zu ändern. Mit der Devise „Erst schießen, dann hinsehen“ ist schwerlich Frieden zu stiften. Hannukkala entwirft mit wenigen Strichen die Gegensätze zwischen militärischen Einstellungen und denen, die von Miltärbeobachtern erwartet werden: Töten oder andere und sich selbst schützen; sich verstecken oder offen zeigen, angriffslustig sein oder ruhig und defensiv; vergelten oder die andere Wange hinhalten; täuschen oder Vertrauensbeziehungen aufbauen. Die Manöver des MO-Kurses folgen strikt dieser Linie der Selbstdisziplinierung.
Kotilainen und ich hocken in einem der acht improvisierten Holzhäuschen, die den Beobachtern einer langgestreckten Waffenstillstandslinie zwischen „Grauland“ und „Blauland“ als Unterkunft dienen. Keine pfeifenden Kartuschkas mehr, kein Gewehrfeuer, keine der ohrenbetäubenden TNT-Explosionen, mit Hilfe derer der Einschlag von Granaten simuliert wird. Keine Formulare mehr auszufüllen, nichts mehr an die Zentrale zu rapportieren. Ein träger, schöner Herbstnachmittag, wenn man von dem permanenten, keineswegs vorgetäuschten Flugsand absieht. Plötzlich taucht ein „Grauland“-Lastwagen auf, angetrunkene Soldateska springt zwischen den Schützengräben herum, wirft die mühsam hochgeschichteten Sandsäcke herunter, klaut die Feldradios und begehrt mit vorgehaltener MP Einlaß in die Holzbuden. Zwei der Offiziere, ein Norweger und ein Libanese, stellen sich vor die Tür und versuchen, den Eindringlingen den Weg zu versperren, natürlich vergeblich. Die anschließende Kritik am Verhalten der beiden MOs ist schneidend. „Was wollen Sie beweisen, Sir? Daß Sie ein Held sind? Auch symbolischer Widerstand ist brandgefährlich. Ist Ihnen noch nie in den Sinn gekommen, daß Alkohol den Finger am Abzug der MP anspannt?“
Aber die MOs haben es nicht nur mit Waffen und Soldaten zu tun. Da gibt es noch die Zivilisten, die leider vergessen haben, ihre Behausungen aus dem Kriegsgebiet zu verlegen. In dem Dorf Chamb unweit der Waffenstillstandslinie soll ein junger Mann durch Splitter einer Granate verletzt worden sein, die von Grauland aus abgefeuert wurde. Ein Inspektionsteam von MOs macht sich auf den Weg ins Dorf, das irgendwo zwischen Bosnien und dem Nahen Osten angesiedelt ist. Die MOs haben verabredet, mit dem Opfer und eventuellen Zeugen getrennt zu reden, aber daraus wird nichts. Sie müssen sich hinsetzen, Tee trinken und mit einer kollektiv erzählten Geschichte Vorlieb nehmen. Das Opfer soll seine Verwundung zeigen. Eine Zumutung, die empört zurückgewiesen wird. „Glauben Sie, daß wir lügen?“ Einer der MOs will mit der Mutter des Verletzten sprechen. Ein Fehler, denn Kommunikation ist nur über den Sohn oder den Ehemann möglich. „Wir halten das hier so“, sagt der Sohn, worauf der die Untersuchung führende MO antwortet: „Das akzeptiere ich.“ Eine Antwort, die ihm später scharfe Kritik des Instrukteurs einbringen wird. Sie sei arrogant und herablassend gewesen. Gott sei Dank erscheint doch noch der Dorfarzt, der die Verwundung bestätigt. Dankbar rapportieren die MOs, aber sie haben, überanstrengt von den Mühen der Befragung, leider vergessen, den Einschußkrater zu examinieren.
Die Zivilbevölkerung, zermürbt, verzweifelt, wütend vor allem auf die UNO, sie wird glänzend von finnischen Wehrpflichtigen dargestellt. Den MOs ist, mit Ausnahme der wenigen finnischen Kursteilnehmer, die Sprache der Einwohner so unverständlich wie die in jedem beliebigen Kriegsgebiet. Sie verständigen sich Englisch, sind also auf Dolmetscher angewiesen. Es sind in der Mehrzahl Frauen, engagiert nach der Leitlinie: „You will never hire a male, if you can hire a female.“ Gleichwohl fühlen sich die Dolmetscher oft beiden Seiten verpflichtet. Umso größeres Gewicht legen die Instrukteure darauf, daß Wort für Wort übersetzt wird. Psychologisch diffizil ist auch das Verhältnis der MOs zu den Verbindungsoffizieren der verfeindeten Seiten. Sie müssen einerseits, da sie Partei sind, auf Distanz gehalten werden, andererseits kann ein gutes Verhältnis zu ihnen Leben retten – wie dieser Tage in Bosnien geschehen, wo der Verbindungsoffizier der bosnischen Regierungsseite muslimische Freiwillige aus dem Nahen Osten daran hinderte, ein gutes Dutzend MOs zu massakrieren.
Der hünenhafte Kommandant einer Dorfmiliz in „Blauland“ hat die Straße gesperrt. Sein Dorf ist bombardiert worden, viele Verwundete sind zu versorgen. „Ich lasse Sie nur durch, wenn Sie versprechen, mit Medikamenten und Nahrungsmitteln zurückzukommen.“ Die MOs könnten, sei's aus Mitleid, sei's aus Bequemlichkeit, Hilfe zusagen. Sie tun es nicht und verhalten sich damit entsprechend den Regeln: keine Zusagen, wenn nicht absolut sicher ist, daß sie eingehalten werden können. Oft sind die MOs allein auf sich gestellt, müssen für die Verpflegung und Unterkunft ihrer Crew sorgen. Darüber hinaus sind sie auch häufig die einzigen UNO-Repräsentanten, werden mit Anforderungen konfrontiert, die eigentlich ins Aufgabengebiet der Flüchtlings- und der Nahrungsmittelhilfe (UNHCR bzw. WHO) fallen.
„Haut ab!“ rufen die Einwohner des Phantasiedorfes Chamb den MOs zu, „Wir können den Krieg allein beenden. Seit drei Jahren werden wir beschossen, aber ihr helft nicht. Ihr tut rein gar nichts.“ Daß humanitäres Engagement nicht auf Dankbarkeit rechnen darf – das ist die letzte und wahrscheinlich schwerste Lektion dieses Kurses für Militärbeobachter in den finnischen Wäldern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen