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Gewalt wahrnehmen

■ betr.: „,Lebensgestaltung‘ wird Pflichtfach“, taz vom 26. 10. 95

Die erste Seite der Medaille „Reichskonkordat“ aus dem Jahr 1933 ist somit in Brandenburg faktisch aufgekündigt. Das Konkordat war und ist ein Abkommen zwischen Kirchen und (nationalsozialistischem) Staat, wonach die öffentlichen Schulen zum Pflichtfach Religion und die Kirchen als Gegenleistung zur stillschweigend- wohlwollenden Duldung faschistischer Gewalt verpflichtet wurden.

Nichtsdestotrotz hat es im Nationalsozialismus Christen und Nichtchristen gegeben, die gleichermaßen Widerstand und praktische Solidarität geleistet haben, während andere sich am „Sieg- Heil“-Geschrei fanatischer Antichristen Bismarckscher Tradition berauschten und nach dem 8. 5. 1945 von allem nichts gewußt haben wollen, und wieder andere zwar alles miterlebt, aber dennoch nichts gewußt haben wollen.

Oft sind es gerade die Religionslehrer, die für eine Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen sensibilisieren. Das ist immerhin ein praktischer Beitrag dazu, die andere Seite der Konkordatsmedaille unter der Hand aufzukündigen. Mich interessiert nicht, ob es Christen oder Nichtchristen sind, die rechtsradikal motivivierte Gewalt überhaupt noch wahrnehmen. Mich interessiert nur, daß Gewalt wahrgenommen wird. Gelebter Antifaschismus ist eine Frage der Haltung und der Sensibilität, nicht eine Frage der Weltanschauung.

Wer lediglich Abschaffung des Pflichtfaches Religion fordert und nicht gleichzeitig glaubwürdig gegen stillschweigende Duldung rechtsradikal motivierter Gewalt vorgeht, begibt sich leicht in gefährliche Nähe des „eisernen Kanzlers“ und dessen, was nach ihm kam und in okkultistischen Substrukturen fortbesteht. Gerlinde Heinze, Wuppertal

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