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Was geht Brooklyn das Universum an?

Im VW-Bus, Baujahr 1970, unterwegs durch Brooklyn. Hermann Pichler, ehemals Redakteur beim New Yorker „Aufbau“, verdingt sich als Tour guide der besonderen Art  ■ Von Jutta Czeguhn

Irrsinnig ist ein Lieblingswort von Hermann Pichler – keine schlechte Vokabel in einer Stadt wie New York. So gibt es „irrsinnig“ viel Verkehr, als Pichlers VW-Bus, Baujahr 1970, über die Williamsburg Bridge nach Brooklyn hinüberstottert. „Irrsinnig“ gut ist auch das Wetter an diesem Vormittag, gerade recht für eine Spritztour ins „andere New York“. Mit diesem Slogan werben viele in der Stadt. Doch schon allein das hinfällige Gefährt der „Just Brooklyn Tours“ verspricht eine eigenwillige Tour.

Nicht weniger eigenwillig ist der „tour guide“ selbst. Ein krauseliger Graubart, Lesebrille, Larry- King-Hosenträger. Seine vergangenen vierzehn New Yorker Jahre hat der gebürtige Steirer in einer anderen Branche zugebracht. Er war Redakteur beim New Yorker Aufbau, jenem deutsch-jüdischen Zeitungsrelikt aus Emigrantentagen, dessen kleine Abonnentenschar mit jeder Todesanzeige unaufhaltsam weiter schrumpft.

Seit Pichler die Redaktion im März dieses Jahres nach internen Querelen „im Unfrieden“ verlassen hat, versucht sich der 54jährige mit seinen „Just Brooklyn Tours“ als Einmannunternehmen im gnadenlosen New Yorker Tourismusgeschäft zu behaupten.

„Thank you, brother, thanks!“ Während seinen beiden Fahrgästen an diesem Tag für Sekunden der Atem stockt, bedankt sich Hermann Pichler winkend für Umsicht und Augenmaß eines Cab drivers, der seinen Bus beinahe von der Bridge gefegt hätte. Dann erzählt Pichler bei heruntergekurbeltem Fenster im donnernden Straßenlärm Stadtgeschichtliches zu Brooklyn.

„Jewish Highway“ wird die um 1903 erbaute Williamsburg Bridge auch genannt, die unser weißer VW-Bus schließlich doch heil überquert. Mit der Fertigstellung der Brücke begann die jüdische Besiedelung Brooklyns, denn das Ghetto in Manhattans Lower Eastside platzte damals aus allen Nähten. Heute wäre Brooklyn mit seinen 2,4 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt der USA – sieht man, wie es die Brooklyner selbst beharrlich tun, von der Tatsache ab, daß es bereits 1898 von New York geschluckt wurde.

„Das Universum expandiert“, stellt der kleine Alvi Singer in Woody Allens „Annie Hall“ fest. Seine Mutter kann mit derartigem Firlefanz nichts anfangen. „Was geht dich das Universum an? Du bist hier in Brooklyn.“ Während anderswo Bauten von den sogenannten historischen Momenten berichten, sind es in Brooklyn die Geschichten der einfachen Leute, wie sie bei Isaac B. Singer, Paul Auster oder eben Woody Allen auftauchen.

Hermann Pichler lenkt seinen Bus durch einen ethischen Mustopf. Chassidische Satmar-Juden, Hispanics, Künstlertypen und Farbige bevölkern das Viertel. Hier in Williamsburg, nördlich der Brücke, lebte in einem großzügigen Loft auch Nora Darling, die Filmfigur aus Spike Lees „She's gotta have it“. Bedford Stuyvesant heißt der von Schwarzen dominierte Stadtteil Brooklyns, der an Williamsburg anschließt. Das Leben, das draußen am Wagenfenster vorbeizieht, scheint stereotyp: Die Leute sitzen auf den Treppen ihrer heruntergekommenen Brownstones. Streetlife. Horden junger Männer, die vor Supermärkten und koreanischen Groceries die Zeit totschlagen. Hermann Pichler hält wenig davon, sich hier die Füße zu vertreten.

In Bed Stuy, auf der Stuyvesant Street zwischen Lexington und Quincy Avenue, spielt auch Spike Lees „Do the Right Thing“. Bevor der Regisseur hier drehen konnte, mußten erst die Crack-Dealer an den Ecken vertrieben werden. Den Set ließ der Regisseur dann von einer Sicherheitsgarde der Black Muslims bewachen – in Bed Stuy liebt man nun mal keine weißen Cops. Hermann Pichler deutet auf einige instandgesetzte Wohnblocks, „housing projects“, mit denen sich die Stadtverwaltung hier engagiert. „Gebt den Leuten anständigen Wohnraum, und sie werden sich schon darum kümmern“, beschreibt Pichler die Idee hinter dem Projekt, dem es natürlich an Geld mangelt. In der Community liegt die Arbeitslosenquote höher und das Pro-Kopf-Einkommen niedriger als sonstwo in New York. Familien leben hier seit Generationen von der Sozialhilfe, die ihnen die weiße „moral majority“ nun bald drastisch kürzen wird. Was die Zahl der Drogenmorde angeht, wird Bedford Stuyvesant nur noch vom Nachbarviertel Brownsville übertroffen.

Zwischen diesen beiden Ghettos liegt Crown Heights, von den schwarzen Nachbarn verächtlich „Jew York“ genannt. Hermann Pichlers Bus fährt geradewegs hinein ins Zenturm ostjüdischer Schtetl-Kultur. In ganz New York leben rund 1,4 Millionen Juden, mehr als in Jerusalem oder Tel Aviv. Die meisten der orthodoxen Einwanderer haben Brooklyn gewählt. Während in Williamsburg zumeist die extrem antizionistischen rumänischen Satmar-Juden leben, ist Crown Heights das Hauptquartier der Lubawitscher, einer aus dem russischen Städtchen Luba stammenden chassidischen Sekte. Satmar und Lubawitscher sind einander wegen ihrer völlig unterschiedlichen Auslegung der Orthodoxie spinnefeind, weiß Hermann Pichler.

„Hier werden wir a bisserl herumgehen“, schlägt Tour guide Pichler diesmal vor. In einer gepflegten Seitenstraße mit Alleebäumen und Vorgärten findet er Parkraum hinter einem weißen Kleinlaster. An dessen Hecktür rankt das Konterfei eines bärtigen Greises mit Hut. „Rabbi Schneerson, den werdet's hier überall sehen“, kommentiert Pichler.

Die Allgegenwart des Rebbe ist wohl nur noch mit der des Papstes im polnischen Tschenstochau zu vergleichen. Milde lächelt er in den Auslagen von koscheren Fleischereien, Eisenwarenläden und hinter den Scheiben der Restaurants. Die Lubawitscher verehren ihn als Messias. Mit dem Tod des Rebbe vor zwei Jahren hat sich der Kult um seine Person noch verstärkt. In Cambria Heights, Queens, haben ihm seine Anhänger sogar ein Mausoleum hingestellt. Im Glauben, die Seele des Rabbi schwebe über dem Grab, pilgern sie zu Tausenden dorthin, wenn sich sein Todestag nähert.

Die dominierende Farbe auf den Staßen von Crown Heights ist das Schwarz der Kaftans. Allerorten stehen die Männer mit den langen Bärten und hohen Hüten beisammen. Die Frauen tragen Perücken, manchmal zusätzlich noch eine Art Haube. Wie überall in Amerika sind auch in Crown Heights die Schulbusse gelb gestrichen, doch tragen sie hier eine hebräische Aufschrift. Die Lubawitscher Gemeinde hat ihren Brooklyner Stadtteil extrem gut organisiert. Neben eigenen Talmud-Thora-Schulen läuft hier auch die Krankenversorgung größtenteils in Eigenregie.

„With roots in Austria, Germany and Israel“, schreibt Hermann Pichler über sich in einem Werbeprospekt der „Just Brooklyn Tours“. Er selbst ist ein Goi, ein katholischer dazu. Sohn und Tochter werden traditionell jüdisch, wenn auch nicht orthodox erzogen.

So richtig zum Frösteln ist der Film „Little Odessa“, nicht zuletzt weil er ausschließlich im Winter spielt. Kalte Trostlosigkeit erwarten wir also in Brooklyns Russenenklave Brighton Beach. Statt dessen tobt hier das Leben. Auf der Brighton Beach Avenue fährt Hermann Pichler rechts ran. Wir betreten einen Food store. Von den Wänden quellen die Würste, die Fleischtheken sind vollgestopft bis zum Rand, wie der „gefillte Fisch“. Kyrillische Schriftzeichen benennen exotische Eßwaren und behalten so ihre Geheimnisse für sich. Die Verkäuferinnen tragen hellblaue Kopfbedeckungen, die an Duschkappen erinnern. Mit hohen Stimmen registrieren sie die Preise und geben das Wechselgeld mit einem „Spassibo“ über die Theke. Um die Ecke liegt Coney Island, das eigentlich gar keine Insel ist, sich dafür aber als alptraumhafte Mischung aus Hollywood-Kulissen, Oktoberfest und Palma de Mallorca präsentiert. Um seine Tourgäste für einen Trip durch dieses Wonderland der dritten Art zu stärken, spendiert Hermann Pichler Hot dog und Soda. Im nicht gerade übertrieben billigen Tourpreis von 40 Dollar inbegriffen. Um 1916 wurden an dieser Stelle zum ersten Mal Bockwürste in Labbersemmeln gebettet – und so schmecken sie noch heute.

Eine rege Phantasie braucht man auch heute, um sich Coney Islands legendäre Vergangenheit als exklusives Seebad vorzustellen. Auf der Surf Avenue promenierte um die Jahrhundertwende die schöne und feine Gesellschaft New Yorks. Heute reihen sich hier Frittenbuden und Ramschläden aneinander. Am langen Strand drängen sich heute im Sommer nackte Leiber wie die Hot dogs auf Nathans Grill. Hatte man eben noch Jiddisch und Russisch im Ohr, herrscht hier das Spanisch der Puertoricaner vor.

Fernab des billigen Amüsements Coney Islands, zu Füßen der berühmtesten aller New Yorker Brücken, liegt Brooklyn Heights. Hier ist noch heute etwas von der Noblesse vergangener Tage zu verspüren, auch wenn der Watchtower der Zeugen Jehovas über allem thront. In gediegenem Wohnstil residiert hier ein finanzkräftiges Yuppie-Volk. Nur einen Katzensprung ist es über die Brooklyn Bridge zu den Büros der Wall Street oder den Galerien SoHos. Von jeher war Brooklyn Heights ein Eldorado der Intellektuellen und Künstler, auch wenn es nie den Ruf eines Greenwich Village genoß. Walt Whitman hat hier an seinem nationalen Epos gefeilt, Hart Crane schrieb über das, was er tagtäglich sah: die Brooklyn Bridge. Willy Loman wurde hier von Arthur Miller zu Papier gebracht, Truman Capote liebte diese Gegend, und die Gershwin-Brüder spielten hier bei offenem Fenster Klavier.

Nach mehr als drei Stunden „Just Brooklyn Tours“ vertreten wir uns ein letztes Mal die Beine und schlendern die Brooklyn Promenade entlang. Der Blick auf die Steinriesen am anderen Ufer des Flusses ist ein einziges dramatisches Klischee. Woody Allens „Manhattan“ beginnt mit dieser Perspektive. Allens Blick auf die Stadt scheint immer der des kleinen jüdischen Jungen aus Flatbush, Brooklyn, geblieben zu sein.

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