Die „zweite Familie“

■ Ein neues Bremer Wohnmodell für psychisch Kranke: PatientInnen des ZKH Ost sollen künftig in privaten Familien unterkommen / Noch werden Gasteltern gesucht

Natürlich prägt der Zeitgeist auch die Psychiatrie. Bestes Beispiel ist die Wohngemeinschaft: Nachdem die sich Ende der 60er Jahre zum Lebensmodell einer ganzen Generation mauserte, dauerte es nicht lange – und die betreute WG wurde der Hit auch für psychisch Kranke. Dieser Befreiungsschlag richtete sich vor allem gegen die Anstalten. „Analog zu unserem eigenen letzten Emanzipationsschritt ins Leben“, sagt Ingeborg Schmitt heute. Die Oberärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Zentralkrankenhaus Ost könnte als 68erin durchgehen – wären da nicht ihre neuesten Ideen, die auf den ersten Blick ziemlich altmodisch wirken.

Mit ihrem fünfköpfigen „Familienpflege“-Team sucht Ingeborg Schmitt derzeit nämlich Familien – am liebsten komplett mit Mutter, Vater und ein paar Kindern.

Genau diese Konstellation wäre ideal, um psychisch Kranke aufzunehmen und ihnen ein Zuhause bieten, glaubt sie. Manche Schizophrene beispielsweise fänden in der „Gastfamilie“ eine gute Alternative zum Leben auf der Krankenstation oder in der betreuten Wohngemeinschaft, schließlich sei dies doch eine künstliche Lebenssituation verglichen mit der gewachsenen Familie. „Damit kommen längst nicht alle klar. Manche PatientInnen sind in Wohngemeinschaften überfordert“, sagt die Ärztin. In der Familie dagegen sei der Umgang miteinander persönlicher. Dazu komme, daß viele Kranke die Vater-Mutter-Kind-Situation bestens kennen. „Wenn wir die richtigen Menschen zusammenbringen, kann es für Eltern und Gastkind eine Bereicherung sein“, glaubt Ingeborg Schmitt.

Ganz neu ist das Modell der „zweiten Familie“ nicht. In Ravensburg wird es seit einigen Jahren praktiziert – als Alternative zum Leben im Heim. Auch in den Niederlanden und in Frankreich funktioniert die Familienunterbringung. Selbst in Bremen gab es Vorläufer – aber die reichen bis ins letzte Jahrhundert zurück und die moderne Familienpflege distanziert sich von ihnen: „Die Unterbringung von psychisch Kranken auf Bauernhöfen hatte damals vor allem ökonomische Ventilfunktion“, sagt Assistenzarzt Dirk Brand. Zwar habe der bäuerliche Betrieb auch einen Weg aus der geschlossenen Anstalt gewiesen – allerdings einen, für den die Kranken meist schwer arbeiten mußten, während ärztliche Betreuung kaum stattfand.

Später, in den dreißiger und vierziger Jahren gab es einen Bruch. Ob und wie die psychisch Kranken in den Bauersfamilien die Nazizeit überstanden, ist jedoch unbekannt. Aus Statistiken weiß man lediglich: Es gab sie. Noch bis in die 80er Jahre betreute das Krankenhaus Ost rund 50 Kranke in verschiedenen Familien – dann lief die „Landpflege“ aus. Neue Familien wurden nicht mehr gesucht. „Vielleicht, weil die Landwirtschaft sich änderte. Vielleicht auch, weil das alte Konzept nicht mehr den Vorstellungen von moderner Psychiatrie entsprach“, schätzt der Team-Soziologe Thomas Berlin.

So kommt es, daß heute nur noch zehn Bremer PatientInnen in Gastfamilien leben. „Die sind mit ihren Gasteltern alt geworden“, berichtet Hildegard Hartje-Horn. Die Krankenschwester besucht die alten PatientInnen und Familien regelmäßig. „Manche unserer PatientInnen haben in ihrer Betreuungsfamilie einen richtigen Platz fürs Leben gefunden“, sagt sie.

Um einen „Platz fürs Leben“ geht es in dem neuen Konzept der Klinik jedoch nicht, eher um eine „Reifezeit“ für die PatientInnen. Die soll zwischen dem stationären Aufenthalt und dem unabhängigen Wohnen in einer WG beispielsweise liegen. In jedem Fall ist sie „kündbar“: Sowohl seitens der Klinik, als auch durch PatientIn oder Familie.

Natürlich bringt das Modell der „zweiten Familie“ auch finanzielle Entlastung für die Klinik. Statt des teuren Krankenhausbettes für ein paar hundert Mark täglich, kostet die Unterbringung in der Familie nur 1.500 Mark im Monat. „Aber vor allem füllt die Familie eine echte Versorgungslücke“, betont das Familienpflegeteam.

Daß Familien selbst Vorteile im Konzept der „zweiten Familie“ sehen, beweist die Resonanz auf die erste Suchanzeige der Klinik: 22 Familien bewarben sich darum, Gastfamilie zu werden. „Es gibt viele gute Gründe, jemanden bei sich aufzunehmen“, weiß Ingeborg Schmitt von den ausführlichen Geprächen, die sie mit Interessierten führte. Da gebe es ältere Paare, denen jemand „zum Betüteln“ fehle, seit die Kinder ausgezogen sind. „Oder junge Familien suchen neue Impulse.“ Danach richten sich auch die Vermittlungen. „25 Gastfamilien in den nächsten zwei Jahren wäre ideal“, heißt es aus der Klinik.

Eva Rhode

Literatur: Die zweite Familie, von Michael Konrad, Paul-Otto Schmidt-Michel (Hg.), Psychiatrie-Verlag Bonn 1993

Weitere Informationen erteilt der Arbeitsbereich Familienpflege im ZKH Ost unter 0421 – 408 2709