: Weiblich, ledig, obdachlos
■ Auch in der Wohnungslosigkeit werden Frauen benachteiligt: Ein Gespräch mit Sozialarbeiterin Gabi Schlottmann
taz: Woran liegt es, daß weniger Frauen als Männer wohnungslos sind?
Gabi Schlottmann: Im Gegensatz zu Männern treten Frauen erst im Hilfesystem auf, wenn eigene Bewältigungsstrategien versagen. Sie versuchen, ihr Problem „privat“ zu lösen und müssen sich daher teilweise mit katastrophalen Bedingungen arrangieren. Frauen tauchen weniger im öffentlichen Raum auf und werden weniger wahrgenommen. Als wir 1991 den Bericht zu „Situation alleinstehender wohnungsloser Frauen in Hamburg“ geschrieben haben, gab es hier kaum obdachlose Frauen in den Straßen. Das hat sich geändert: Die Armut von Frauen ist offensichtlicher geworden.
Wie müßte ein effektives Hilfesystem für Frauen aussehen?
Es ist wichtig, niedrigschwellige Angebote wie Tagestreffs zu schaffen, wo Frauen nicht so hohen Anforderungen ausgesetzt sind, nicht gleich als defizitär wahrgenommen werden. Sie müssen einfach ihre tatsächlichen Bedürfnisse erledigen können: Essen, sich waschen, ein bißchen reden. Wenn die Frauen nach ihren Wünschen gefragt werden, antworten 80 Prozent: „eine Wohnung“. Nur ein Prozent möchte in eine stationäre Einrichtung. Neue Unterkünfte mit päd-agogischer Begleitung zu schaffen, ist also überflüssig. Frauen sind keine hilflosen Wesen, die auf eine Sozialarbeiterin angewiesen sind. Was sie brauchen, ist eine Wohnung.
Worin unterscheiden sich die Ursachen weiblicher und männlicher Obdachlosigkeit?
Bei Frauen sind die Ursachen in 54 Prozent der Fälle bei Änderungen im Familiensystem oder in der Partnerbeziehung zu suchen. Bei Männern sind das 30 Prozent. Dann spielen Arbeitslosigkeit und Armut eine wichtige Rolle. Frauen sind häufig schlechter qualifiziert: 70 Prozent aller sozialversicherungsfreien Beschäftigungen werden an Frauen vergeben. 90 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen; die Lohnersatzleistungen sind entsprechend geringer. Das heißt, daß viele Frauen automatisch auf Sozialhilfe angewiesen sind, wenn sie plötzlich den Job verlieren.
Hat Hamburg im Gegensatz zu anderen Städten verstärkt mit Wohnungslosigkeit zu kämpfen?
Frauen aus Flächenstaaten erzählen immer, daß auf dem Land wenig obdachlose Frauen in den Gemeinden auftauchen. Ich glaube nicht, daß die familiären Systeme dort besser funktionieren. Die Frauen fallen nur nicht auf, weil es keine entsprechenden Angebote für sie gibt. Es kommen immer mehr Leute mit psychischen Macken in die Beratungsstellen, die schon lange wohnungslos sind. Es besteht die Gefahr, daß Frauen dann in die Psychiatrie eingewiesen werden.
Womit haben Frauen auf der Straße besonders zu kämpfen?
Das Leben auf der Straße ist der extremste Ausdruck gesellschaftlichen Elends, das es zu bewältigen gilt. In der Regel machen Frauen nicht allein „Platte“, sondern leben in einer Gruppe, häufig in Zwangs- oder Zweckpartnerschaften, die von Gewalt geprägt sind, jedoch gleichzeitig Schutzcharakter haben. Ein Leben im Straßenmilieu beeinträchtigt den gesundheitilichen Zustand der betroffenen Frauen. Infektions- und Hautkrankheiten sowie Unterleibserkrankungen gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern bei wohnungslosen Frauen.
Was passiert mit den Kindern, wenn Frauen obdachlos werden?
Das ist ein ganz großes Problem. Das Hilfesystem ist auf alleinstehende Menschen ausgerichtet. In Hamburg gibt es eine einzige Unterkunft für Frauen mit Kindern. Ansonsten kann es passieren, daß das Kind in die öffentliche Erziehung gegeben wird. Das ist auch eine Kritik am sozialen Wohnungsbau, der sich immer noch an der traditionellen Familie orientiert. Ähnliches gilt für wohnungslose Paare: Alle Einrichtungen sind nach Geschlechtern getrennt.
Der erste und bislang einzige Bericht zur „Situation alleinstehender wohnungsloser Frauen in Hamburg“ ist fast fünf Jahre alt. Sind denn jetzt alle Probleme gelöst, oder warum gibt es keine Nachfolge-Bilanzen?
Es nennt nur das Problem beim Namen, löst es aber nicht. Im Auftrag der Frauenfraktion der Hamburger Bürgerschaft haben wir zusammen mit dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Wohnraumversorgung, Helmuth Schmidtke, erstmalig zusammenfassende Zahlen für Hamburg vorgelegt. Es wurden Ursachen beschrieben, die Angebote für obdachlose Frauen in Hamburg bewertet und eine mehrseitige Liste mit Forderungen und detaillierten Lösungsvorschlägen aufgestellt.
Wurden die Vorschläge umgesetzt?
Es ist offenbar praktischer, über Obdachlosigkeit von Frauen lieber zu schweigen. Unsere uralte Forderung nach einer geschlechtsspezifischen Wohnungsnotfall-Statistik ist weiterhin unerfüllt. Weder in Hamburg noch bundesweit gibt es Zahlen.
Es hat also überhaupt nichts bewegt?
Doch, seit dem Bericht hat es in Hamburg kleine Fortschritte gegeben: 1992 wurde vom Verein Kemenate e.V. mit Unterstützung des Senatsamts für die Gleichstellung ein Tagestreff für wohnungslose Frauen eingerichtet. Nach vierjähriger Diskussion um fehlende Unterbringungsmöglichkeiten hat die Sozialbehörde jetzt zugesichert, im nächsten Jahr eine Frauenpension mit 30 Plätzen auf dem Langeloschen Hof in Eimsbüttel zu bauen.
Welche Vorteile hätte eine geschlechtsspezifische Statistik?
Die Wohnungslosenhilfe ist immer noch männlich dominiert. Das Hilfeangebot ist auf Männer ausgerichtet, und auch in den Einrichtungen arbeiten hauptsächlich männliche Mitarbeiter. Deshalb ist es wichtig, Frauen zahlenmäßig zu erfassen, weil leider erst über Quantifizierung der Bedarf an entsprechenden Hilfeangeboten sichtbar gemacht wird.
Fragen: Heike Haarhoff
Die Beratungsstelle für alleinstehende Wohnungslose, Repsoldstr. 49, Tel.: 23 01 16, bietet täglich außer mittwochs von 9.30 bis 12.30 Uhr offene Beratung an.
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