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Liebevolle Hingabe und bezahlte Dienstleistung

Während Essensversorgung und Körperpflege bei der Betreuung von Behinderten selbstverständlich sind, werden die sexuellen Bedürfnisse ausgeblendet. In Wiesbaden sorgt der Körperkontaktservice „Sensis“ für Abhilfe  ■ Von Sabine Kohlstadt

„Die Frauen haben keine Ahnung von uns!“ beschwert sich Timmy* (26), während seine Arme unkontrolliert durch die Luft schlagen. Im Rollstuhl neben ihm zieht die 46jährige Hannah* ernüchtert Bilanz. Für die gelähmte Frau haben sich bisher nur „Alkoholiker und labile Gestalten“ interessiert. Jetzt soll ein Körperkontaktservice für Körperbehinderte die Last mit der Lust erleichtern. Die Interessengemeinschaft für Behinderte e.V. (IFB) in Wiesbaden stellt Schwerstbehinderten ihre neue Einrichtung vor.

Einfach anrufen und sich jemand nach Hause bestellen: einen Kundendienst, der tut, was Spastiker Timmy aufgrund der Behinderung selbst nicht machen kann – mit Geduld und Zärtlichkeit statt mit professionellen Prostituierten. So jedenfalls beschreibt es Gudrun Greb, Organisatorin des bundesweit einmaligen Projektes. Für die 32jährige Sexualberaterin ist der Körperkontaktservice „Sensis“ eine wichtige Ergänzung der mobilen Hilfsdienste des Vereins. Während Essensversorgung und Körperpflege bei der Behindertenbetreuung selbstverständlich sind, werden die sexuellen Bedürfnisse weitgehend ausgeblendet. Anspruch des IFB sei es aber, behinderte Menschen konsequent mit allem zu versorgen, was notwendig ist.

Hilfestellungen beim Essen, Waschen und Windeln sind für Schwerst- und Mehrfachbehinderte häufig die einzigen körperlichen Kontakte. Was tun, fragt sich so mancher Pfleger, wenn eine Behinderte regelmäßig beim Waschen einen Höhepunkt bekommt? Einfach tun, als sei nichts gewesen, die Frau in ein ablenkendes Gespräch verwickeln oder nach einer Kollegin rufen? Frauen haben genauso Probleme. „Gerade im Sommer, wenn leichtbekleidete Pflegerinnen rumlaufen, ist es eine Schwierigkeit“, lächelt die Sexualberaterin Greb und streicht den schwarzen Zopf zurück.

Allzu viele Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszuleben, haben die Behinderten nicht. Manche möchten zu Prostituierten gebracht werden, andere versuchen in Kneipen oder bei Behindertentreffen Kontakte zu knüpfen. „Viele sind aber zu schüchtern“, ergänzt Timmy leise und läßt offen, ob er auch dazugehört. Hannah hatte einen Körperbehinderten näher kennengelernt. Es ließ sich gut an, damals, doch dann haben dessen Eltern die Verbindung einschlafen lassen. „Weil ihnen der Transfer von zwei Rollstuhlfahrern zu aufwendig war“, fügt Hannah verbittert hinzu. Die braunen Augen glänzen feucht. Eine richtige Partnerschaft, das wär's – ein paar bezahlte Küsse und etwas Körperwärme können bestenfalls trösten. Und selbst diese Hilfe stellt hohe Ansprüche an die MitarbeiterInnen von „Sensis“. In langen Bewerbungsgesprächen suchen Gudrun Greb und der IFB-Geschäftsführer nach starken Persönlichkeiten, die trotz einfühlsamer Hilfeleistung ihre eigenen Grenzen nicht überschreiten. Besonderen Wert legt Greb auf ein gutes Körpergefühl, „um mit dem anderen Körper gut umgehen zu können“. Am schwierigsten ist jedoch, gibt die Sexualberaterin zu, zwischen liebevoller Hingabe und bezahlter Dienstleistung das Gleichgewicht zu halten.

Fünf Frauen trauen sich diesen Job zu, unter ihnen eine Krankenschwester, eine Sekretärin und eine Ärztin. Auch zwei Männer gehören zu „Sensis“. Einer nennt sich Marc. Der gelernte Betriebswirt ist Mitte Dreißig, groß, schlank, attraktiv. Sonnenbraune Haut, ein breites Lächeln – er könnte Segellehrer oder Animateur eines Reiseveranstalters sein. Aber Marc ist arbeitslos und bereit, auch Unkonventionelles auszuprobieren. Sein Motiv für den ungewöhnlichen Nebenjob: „Ich bin sehr sozial eingestellt.“ Mit Körperbehinderten hatte Marc zwar bis jetzt noch nichts zu tun, aber Erfahrung mit psychisch Kranken aus seinem Bekanntenkreis. Unvoreingenommen sei er – und neugierig. Mit warmer Stimme schätzt sich Marc als „sehr gefühlsbetont“ ein und ist überzeugt, „für diese Tätigkeit der richtige Mann zu sein“.

Er und seine KollegInnen werden in einer mehrwöchigen Schulungsphase auf ihren Einsatz vorbereitet. Organisatorin Greb erläutert das Konzept: Eine Krankengymnastin erklärt verschiedene Behinderungen, Ängste und Unsicherheiten sollen durch Gespräche und Rollenspiele abgebaut werden. Geübt werde auch das Aus- und Anziehen von RollstuhlfahrerInnen, unterstreicht Greb, nur wer das ganz selbstverständlich beherrscht, kann sich wirklich auf den Kunden konzentrieren.

Hannah kann sich den Service jetzt schon etwas verlockender vorstellen, vermutet aber: „Die meisten Behinderten sind von Anfang an abgelehnt worden, da ist es schwierig, überhaupt jemand an sich rankommen zu lassen.“ Beim Kundenbesuch soll denn auch eine „freundschaftliche Atmosphäre“ geschaffen werden. Im Idealfall bemühen sich die MitarbeiterInnen von „Sensis“ mit Kerzenlicht und Musik um eine gelöste Stimmung. Die Sexualberaterin rät, die entspannende Wirkung noch mit einem passenden Duft zu verstärken. Kerzen, Duft- und Massageöl haben die MitarbeiterInnen immer dabei – Kondome auch. Ein Anrecht auf Geschlechtsverkehr gibt es jedoch nicht, betont Greb. Es soll ganz den Beteiligten vor Ort überlassen bleiben, was sie zusammen tun. Wer einfach in den Arm genommen werden oder eine zärtliche Nackenmassage bekommen möchte, soll auch „nur“ das bekommen. „Man muß sich einfach verwöhnen lassen!“ grinst Timmy erfreut.

Hannah hingegen schaut zweifelnd auf ihren umfangreichen Körper. Ob mich überhaupt einer anfassen mag, scheint sie sich zu fragen. „Männer nehmen's leichter“, seufzt die Sexualberaterin, „für viele Frauen ist Sex ohne Liebesbeziehung immer noch unanständig.“ Ungeachtet dessen, wie der Kontakt gestaltet wird, ist nach einer Dreiviertelstunde Schluß.

„Viel zu kurz!“ urteilt Timmy. Aber mehr könnte die MitarbeiterInnen zu sehr belasten, fürchtet die Organisatorin. Sie schlägt den Behinderten vor, eine ausgiebige Körperpflege zu organisieren und sich schon ein paar Stunden vorher auf „Sensis“ einzustimmen. Im übrigen, argumentiert sie, wäre eine längere Dauer auch zu teuer. Immerhin muß die oder der Behinderte für 45 Minuten Zärtlichkeit 130 Mark auf den Tisch legen. Timmy stöhnt auf, sein blonder Schnurrbart zuckt. „Das entspricht genau seinem Monatslohn!“ erklärt Hannah verständnisvoll, und Timmy versinkt in brütendes Schweigen.

Betont nebensächlich erkundigt sich Hannah nach der Telefonnummer von „Sensis“: „Vielleicht kommt man wirklich mal drauf zurück.“ Sie ist gegenüber jeder Form von Hilfe skeptisch geworden, verkneift sich Wünsche nach Körperlichkeit und Nähe. Die permanente Verdrängung kann jedoch schlimme Folgen haben. Gudrun Greb berichtet von Ärzten, die nicht nur Verspannungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden, sondern auch Herzrhythmusstörungen als Symptome des Triebstaus identifizieren. In solchen Fällen – aber auch nur dann – können die Betroffenen eine Kostenübernahme durch die Kasse beantragen.

Timmy will nicht warten, bis sich neue Krankheiten manifestieren, die blauen Augen strahlen wieder: „Das wär' doch ein Thema fürs Fernsehen? Die wollen doch bestimmt Erfahrungsberichte?“ Jetzt sind Timmys weitausladende Bewegungen Zeichen sichtlichen Vergnügens: „Dann müssen die das eben bezahlen!“

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert

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