: Literarischer Punk
■ Die israelische Autorin Orly Castel-Bloom liest aus dem Roman „Dolly City“
Kein Begriff wurde in den vergangenen Jahren dermaßen verhunzt, ausgeschlachtet, durch die Werbespot-Maschine gedreht, geliftet und wieder verbraucht, kein Begriff ist ein solcher Wortzombie geworden wie „Punk“. „Dolly City“, verheißt der Umschlag, „ist literarischer Punk.“ So was allein kann einem Buch den Garaus machen. Problematisch wird es, wenn die Autorin es selbst so sieht. Heute abend stellt Orly Castel-Bloom ihren bei Rowohlt erschienenen Debütroman in Hamburg vor.
Die israelische Autorin hat eine düster-futuristische Kulisse entworfen, die vor allem eins ist: bekannt. Würde Ridley Scott für jede Adaption des Blade Runners Tantiemen kassieren, er wäre ein noch gemachterer Mann. Dolly City ist ein gespenstisches, wucherndes Dorado, eine surrealistische Stadt, in der viel gelitten wird und in dem die Protagonistin, eine auf die Behandlung von Labortieren spezialisierte Ärztin, ziellos herumdeliriert. Bis sie eines Tages im Müll ein Kind entdeckt, es mit nach Hause nimmt und in eine zerstörerische symbiotische Beziehung zerrt.
Die 1960 geborene Orly Castel-Bloom zählt zu einer neuen Generation von israelischen Schriftstellern, die den inneren Konfliktlinien ihres Landes nachspürt. Aufgewachsen sind sie nicht nur mit dem Trauma des Holocausts, sondern auch mit den drei Akkorden und den Insignien des Punks. Diese Erfahrungen treffen und verdichten sich in Dolly City in dem Augenblick, als die Ärztin dem Kind eine Landkarte Israels in den Rücken tätowiert. Eine Tätowierung – als Tattoo eine Punk-Ikone, als Nummer in den Konzentrationslagern sichtbares und unauslöschliches Zeichen einer gnadenlosen Entmenschlichung.
Zwischen der ganzen Ratlosigkeit tröpfeln immer wieder Sätze in die Handlung ein, die zeigen, daß Orly Castel-Bloom ihr Metier versteht: „Ich sagte zu mir: Dolly, dein großer Tag ist gekommen, alle sind krank, alle liegen im Sterben. Ich rannte zum Einstellungsbüro und wurde genommen.“ Doch in der Ballung surrealistischer, sich in immer schnelleren Rhythmen überlagernden Sequenzen verliert sich der Schrecken. Ein Sichtbarwerden bleibt aus, verpufft im atemlosen Stakkato der Erzählung.
„Das Groteske nimmt überhand. Eigentlich sollte die Gesellschaft durch den Friedensprozeß viel normaler sein“, sagte vor einiger Zeit Gershon Shaked, Literaturprofessor an der Jerusalemer Hebrew University. Die aktuellen Ereignisse in Israel zeigen, daß es offensichtlich nicht so ist.
Karsten Neumann
Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße, 19.30 Uhr
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