Vielleicht eine Barbie ...

... aber kein Püppchen – Disneys Version der Pocahontas-Legende ist eine erotische. Die spätere Bekehrung zum Christentum fällt aus  ■ Von Paul Muldoon

„Ich habe schon in ganz anderen Schlamasseln gesteckt“, flötet John Smith (Mel Gibson), angesichts der Aussicht, von Powhatan den Schädel eingeschlagen zu bekommen, „aber jetzt gerade fällt mir keins ein.“ Hat Mel sein Porträt von William Wallace in der Dornbusch-Oper „Braveheart“ vergessen, wo er sich in aller Ruhe auf die Aussicht, gehängt, gestreckt und gevierteilt zu werden, einstellen konnte? Ganz offensichtlich. Aber das ist nur ein Bruchteil dessen, was vergessen, verfälscht oder konstruiert wurde in einem Film, der dennoch mehrere neue Optionen für Disney eröffnet – einige davon außerordentlich begrüßenswert.

Schon die „Fakten“ der Geschichte von Pocahontas, von denen die eine oder andere Version fest in unseren Hinterköpfen eingenistet ist, sind nicht unumstritten. Es wird allgemein angenommen, daß sie irgendwann zwischen 1595 und 1597 geboren wurde. Ihr Vater war Powhatan, Häuptling einer Konföderation von Stämmen gleichen Namens, die in der Nähe von Jamestown lebten. So jedenfalls nannten es die englischen Kolonisten, die dort 1607 unter Führung von Edward Wingfield anlandeten. Unter den Kolonisten befand sich auch George Percy, der Bruder des Grafen von Northcumberland, John Ratcliffe, der Kapitän der drei Schiffe, und natürlich John Smith, zu dem Disneys Pocahontas anmerkt: „was für ein ungewöhnlicher Name“. Die historische Pocahontas, deren eigener Name etwas wie „kleiner Springinsfeld“ bedeutet, wurde von einem der Kolonisten als „wohlgestaltes, aber schamloses junges Mädchen“ beschrieben. 1607, als sie anfing, die Siedlung in Jamestown häufiger zu besuchen, um mit den Jungens aus den Hütten zu spielen, muß sie etwa zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, mit kurzgeschorenem Haar. Sie freundete sich mit John Smith an, der unbedingt die Sprache der Powhatans lernen wollte.

Es war im Dezember 1607, nach einem unglücklichen Zwischenfall, bei dem zwei Kolonisten und mehrere Powhatans umkamen, als John Smith festgenommen wurde. In seinen eigenen Aufzeichnungen, in denen er über sich selbst stets in der dritten Person schreibt, heißt es dazu: „so viele wie nur irgend konnten, ergriffen ihn“. In diesem Moment nahm Pocahontas Smith' „Kopf in die Arme und legte ihren eigenen auf ihn, um ihn vor dem Tod zu bewahren“. Smith kehrte im Januar 1608 nach Jamestown zurück, wo er von John Ratcliffe (der inzwischen Präsident des Rats von Jamestown geworden war) bezichtigt wurde, für die Ermordung der beiden Kolonisten verantwortlich zu sein und kurzerhand zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde. Steele Woodward schildert den Ablauf so: „Die ,Susan Constant‘ ging unter dem Kommando von Kapitän Newport im Hafen von Jamestown vor Anker ... Die Schlinge lag schon um Smith' Hals, da donnerte die Kanone von Newports Schiff herüber und stoppte die Hinrichtung. Newport stieg vom Schiff, und nachdem er erfahren hatte, wie die Dinge lagen, überredete er die Ratsmitglieder, Smith freizulassen, indem er sie an die großen Verdienste erinnerte, die Smith sich um die Kolonien erworben hatte.“

Die dramatische Entwicklung der Ereignisse spielt bei Disney überhaupt keine Rolle, denn deren Version endet damit, daß John Smith 1609 in den Sonnenuntergang und aus dem Film heraussegelt. Noch erfahren wir etwas über Pocahontas weiteres Geschick – ihre Konversion zum Christentum, ihre Ehe mit dem Farmer John Rolfe, ihre Reise nach England, ihr Antrittsbesuch beim Hof James I., ihr Tod im Jahre 1617, im Alter von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren, und ihre Beerdigung in Gravesend.

Fast dreißig Jahre nach ihrer Niederschrift scheinen Leslie Fiedlers Analysen dessen, was er „den Mythos von der Liebe in den Wäldern“ nennt, ganz besonders gut zu passen: „Die Pocahontas-Legende, trotz ihrer Beziehungen zum frühen amerikanischen Westen, ist eine der wenigen, die die Fantasie unserer Klassiker nie beschäftigt hat; es waren immer die Hersteller populärer Unterhaltung in Prosa und Dichtung, zwischen Buchdeckeln und auf der Bühne, und zwar vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn unserer Zeit, die sich mit ihr befaßten.“ Nachdem er uns den Erfolg solcher Werke wie Barkers „The Indian Princess“ oder „La Belle Sauvage“ vor Augen geführt hat, bemerkt Fiedler mit dem ihm eigenen Scharfsinn, daß der Topos von der indianischen Prinzessin sich von früheren Beschreibungen des Kontinents als einer „Indianerkönigin“ herleitet. Die, wie er sich ausdrückt, „zu voller Größe aufgelaufene gefährliche Mutter wird eine jungfräuliche Tochter, die beschützt werden muß, eine Riesin wird zu einem kleinen Mädchen verschlankt ... Sie wird, mit einem Wort, eine taufrische Diana der Wälder.“ Von dieser „Diana“ behauptete der Kolonist William Strachey, sie würde die Jungs „mit sich auf den Marktplatz locken, nackt Handstand machen“, und auch John Smith berichtet, sie sei nackt aus den Wäldern zu ihm gekommen. „Nackt“ ist für Fiedler das Stichwort in dieser erotisch freizügigeren Version von Pocahontas, und so ist es wenig überraschend, daß auch Disneys Version eine erotische ist. Disneys Pocahontas ist eine „Puppe“, basierend, so Disney, auf einer Mischung aus der Prinzessin Tigerlily aus „Peter Pan“ und den Supermodels Kate Moss und Iman. Mit dem kleinen schulterfreien Lederkleidchen, das sie von den anderen Powhatan- Mädchen absetzt, ist diese verschlankte, langbewimperte und kurvige Pocahontas eine Barbie mit einem bloßen Hauch von Barbarei, eine „Belle“ mit einem Hauch von Wildheit.

So betrachtet ist Pocahontas weniger die Adaption irgendeines historischen Charakters als vielmehr die einer Disney-Protagonistin der letzten Jahre, vor allem der Belle aus „Die Schöne und das Biest“ und der Ariel aus „Die kleine Meerjungfrau“.

Man muß sich keine Vorwürfe machen, wenn man die Beziehungen zwischen den dominierenden Vätern (König Triton/Powhatan) und ihren willfährigen Töchtern (Ariel/Pocahontas), die den jungen Flegeln (Gaston/Kocoum), die ihnen den Hof machen, ein mißachtetes oder wirkliches Ding (The Beast/John Smith) vorziehen, für etwas zu schematisch hält.

Auch ist die Methode, der Haupthandlung mehr Gewicht zu verleihen, indem man sie in einem Nebenplot spiegelt, nicht gerade neu. So kriecht eine Ratte gerade in dem Moment die Trosse der „Susan Constant‘ hinauf, als der rattenhafte John Ratcliffe die Leitplanke hinaufgeht. Man denkt an die Szene in „101 Dalmatiner“, in der Pongo und Perdita sich das Jawort genau in dem Moment geben, als auch ihre Herrschaften vor dem Priester stehen.

Während man sich gewisse Freiheiten in bezug auf die biographischen Fakten erlaubt, läßt man John Ratcliffe immerhin als echten Menschen weitermachen. Dafür wird aus George Percy ein langweiler kleiner Köter, der mit einem ebenso langweiligen Waschbären namens Meeko anbändelt. Für einige Kinogänger wird die Tatsache, daß Meeko und sein Freund, der Specht Flit, nicht sprechen, ein Novum im Disney-Konzept sein. Das Sprechen wird hier einem Baum überlassen, Großmutter Weide, die Pocahontas in bester New-Age-Manier auffordert, ihrem Herzen zu folgen. Die Stimme Großmutter Weides stammt von Linda Hunt, die hier eine exzellente Nebenrolle hat. Mel Gibson zieht seine übliche Matinee-Idol- Masche ab, wenngleich John Smith (anders als Wallace in „Braveheart“) keineswegs seinen Hintern zeigt. Die absolute Spitzen-Performance gibt hier aber der Indianer- Aktivist Russel Means, der der Rolle von Powhatan ein erhebliches Gewicht verleiht, wie er es schon mit der von Chingachgook in Michael Manns „Der letzte Mohikaner“ tat.

Die offensichtlichste Veränderung in dieser „Pocahontas“-Verfilmung ist das dunkle Ende. Soweit ich weiß, ist dies die erste Disney-Heldin, die nicht die wahre Liebe findet. Vielleicht besteht der Clou dieses Films darin, daß eine junge Frau der neunziger Jahre, die attraktiv genug ist, einen jungen Mann für sich zu gewinnen, die Stärke haben muß, ihn ziehen zu lassen – vielleicht sogar, ihm dafür noch gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. Disneys Pocahontas ist vielleicht eine Barbie, aber sie ist keine dumme Gans. Vielleicht ist sie ein Püppchen, aber eins mit Rückgrat.

„Pocahontas“. Regie: Eric Goldberg und Mike Gabriel. Spezialeffekte: Don Paul. Computergrafiken: Steve Goldberg. 81 Min., USA 1995

Mit freundlicher Genehmigung des „Times Literary Supplement“.

Übersetzung aus dem Englischen von Mariam Niroumand.