■ Nicht die Reformen zerreißen die kubanische Gesellschaft, sondern die Tatsache, daß sie so spät kommen: Die verlorene Zeit
An Havannas zentralem Busbahnhof verkündete viele Jahre lang eine große Stelltafel die Parole: „Mit der Partei und Fidel bis ins Jahr 2000“. Vor kurzem hat man sie abmontiert. Nicht etwa wgen der Partei oder wegen Fidel Castro. Es soll nur niemand auf die Idee kommen, daß sich in Kuba schon in fünf Jahren etwas ändern könnte in Sachen Partei und Comandante. Fidel forever.
Kuba ist nicht den Weg Ost-Europas gegangen, wie es so viele erwartet hatten. Aber welchen Weg geht es? Kein einziger Wirtschaftsplaner der Regierung hat bislang dem Volke skizziert, wie denn, zumindest als Zielvorstellung, ein sozialistisches Kuba im Jahr 2000 aussehen sollte. So bleibt der Blick auf die Veränderungen, die die KubanerInnen jetzt erleben. Für die Zukunft sind sie alles andere als beruhigende Vorboten.
Obwohl: Es gibt in Kuba tatsächlich einen wirtschaftlichen Aufschwung – für die, die Geld haben. Im Land der alltäglichen Stromausfälle boomen die neuen Dollar-Tankstellen, mit digitalen Zapfsäulen, 24 Stunden am Tag geöffnet. In jedem Stadtteil bieten staatliche Imbißbuden Hot dogs für einen Dollar an, in jedem mittelgroßen Dorf verkaufen Staatsläden Fleischkonserven, Seife und Monatsbinden für US-Währung. Das, was so bitter „Touristenapartheid“ genannt wurde, ist Vergangenheit. An ihre Stelle tritt die vom Staat selbst betriebene Diffusion der Dollar-Welten. Damit aber fällt Kubas einst sozialistische Gesellschaft offen auseinander. Ein Krankenpfleger im hochgerühmten Gesundheitssystem arbeitet für umgerechnet sieben Dollar im Monat. Ein Kellner im Hotel bekommt das bei einem Frühstück als Trinkgeld. Und den Wechselkurs bestimmt nicht mehr nur der Schwarzmarkt, sondern mittlerweile ganz offiziell auch die staatlichen Wechselstuben.
Resistir!, Widerstehen! – das war die zentrale Parole der letzten sechs Jahre. Widerstanden zu haben, nicht „gefallen“ zu sein, ist die große sozialistische Errungenschaft in schwerer Zeit, die die Regierung präsentiert. Dabei war Castros martialisches „Widerstehen!“ nicht nur Kampfruf gegen die Blockade-Politik des Imperiums, sondern immer auch Absage an Veränderung im eigenen Land gewesen. Das rächt sich nun.
Die Probleme wurden verdrängt, nicht gelöst. Bei aller Außenöffnung kommt die Reform der kubanischen Binnenökonomie bis heute nur zögerlich voran. Ein Bauer kann nicht eigenständig Dünger oder Saatgut kaufen, eine Landkooperative nicht entscheiden, was sie wo anbaut, drei Friseure nicht eine Genossenschaft gründen und ein Lokal anmieten. Nur wo der Staat der Unternehmer ist, stürzt sich Kuba in den Kapitalismus. So sind es weniger die „großen Reformen“, die die kubanische Gesellschaft nun erschüttern, sondern vielmehr das Ausmaß der aufgestauten Probleme. Zum Beispiel die Währung. Bis vor einem Jahr hatte die Regierung Castro sich geweigert, den fortwährenden Verfall des kubanischen Peso als Problem ernst zu nehmen. Unterdessen fiel der durchschnittliche kubanische Monatslohn auf umgerechnet sage und schreibe anderthalb Dollar. Als dann, so spät, doch noch die Notbremse gezogen wurde, hatte auch Castro kein rettendes As im Ärmel.
Den Preis dafür zahlen die Kubaner jetzt. Sparprogramm, Massenentlassungen, Preiserhöhungen – all das ist nicht verhindert, sondern nur aufgeschoben. Die Dollarisierung, in die sich die Regierung flüchtet, droht die Gesellschaft vor allem deshalb so kraß zu spalten, weil der Peso dermaßen wenig wert ist. Die Kluft zwischen Reich und Arm öffnet sich, obwohl die Reichen nicht einmal reich sind. Sicher, es gibt die großen Absahner, Schwarzmarktbonzen oder Funktionäre, die auch mal 100.000 Dollar falsch fakturieren. Wie in China, dem Vorbild der kubanischen Wirtschaftsöffnung, ist die Kombination aus Auslandskapital und politisch bedingter Intransparenz ein Nährboden der Korruption. Aber wenn von Kubas „Neureichen“ die Rede ist, dann meint das in aller Regel viel Trivialeres: Diejenigen, die von Verwandten aus den USA Dollar-Überweisungen bekommen, im Tourismus arbeiten oder in einer Joint-venture- Firma beschäftigt sind. Daß die Trinkgelder eines Hotelkellners zum Symbol für den Sozialneid auf eine „neue Schicht“ werden, sagt weniger aus über die Folgen kapitalistischer Öffnung als vielmehr darüber, wie tief in den letzten Jahren Kubas sozialistische Ökonomie gefallen ist.
Die Bestandsaufnahme bleibt ambivalent. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wer das Erreichte sehen will, der sieht: daß die Untergangsstimmung vom letzten Sommer überwunden ist, daß Kubas Sozialismus den Fall der Sowjetunion überlebt und dem Embargo der USA getrotzt hat. Und noch sind die sieben Dollar Monatsgehalt in Havanna nicht das gleiche wie sieben Dollar in Buenos Aires oder Lima. Noch gibt es in Kuba staatliche Zuteilungen von Reis, Bohnen, Zucker über die Lebensmittelkarte. Noch gibt es kostenlose Krankenhäuser, die unter tausend Mängeln ächzen, aber doch noch halbwegs eine medizinische Versorgung unabhängig vom Einkommen bieten. Noch funktionieren die Subventionen der Staatswirtschaft als stolpernder Sozialplan für jene, die von den Dollarwelten ausgeschlossen sind. Aber wenn es um die Zukunft Kubas geht, dann ist dieses „noch“ ein bedrohlicher Schatten.
Die Zwickmühle schnappt zu, wo der Staat kaum mehr Ressourcen hat, um hier Neues zu schaffen. Denn das „Widerstehen ohne Verändern“ hat Fidel Castro teuer erkauft. Vor der Alternative „Lebensmittel importieren oder Bauernmärkte zulassen“ hatte er sich noch bis 1994 für ersteres entschieden – um den Preis, daß sich Kuba jährlich fast um eine Milliarde US- Dollar neu verschuldete. Doch die Grenzen sind erreicht. Praktisch die gesamte Zuckerernte des nächsten Jahres ist bereits verkauft.
Nach 1989 hatte es viele Bestrebungen für eine Erneuerung der Gesellschaft von innen heraus gegeben. Castro hat eine Debatte darüber im Keime erstickt: Resistir! und keine Diskussion. Jetzt, so scheint es, sind die Spielräume aufgebraucht, mit denen Kuba einen selbstbestimmteren und an sozialer Gerechtigkeit orientierten Umbau der Wirtschaft hätte finanzieren können. Das Auslandskapital interessiert sich nur für jene, die in harter Währung zahlen können.
Castro hat auf Zeit gespielt, und er hält das Steuer nach wie vor unangefochten in der Hand. Aber sein Sieg ist ein Pyrrhussieg. Die KubanerInnen bekommen nun zu spüren, wieviel Zeit Kuba seit 1989 nicht gewonnen, sondern verloren hat. Bert Hoffmann
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