: Die BVG in neuen Gleisen
■ Die Verkehrsbetriebe gehen beim Kundenservice aufs Ganze: Aus der Beschwerdestelle wurde "Qualitätsservice", aus BVGlern wurden "Qualitätskoordinatoren" / Namen als Programm
Der 18jährige Tobias hat vor den Augen des Zivilkontrolleurs seine BVG-Monatskarte zerrissen. „Der hat zu mir gesagt, das sei nur noch ein Lappen, und wollte sie einziehen“, begründet er zwei Stunden später bei der BVG- Beschwerdestelle seinen Reißwolfanfall. Er hält Monika Reyer die Hälfte der Karte unter die Nase, auf der die Wertmarke klebt. „Der Kontrolleur hätte Ihnen empfehlen müssen, sich eine neue Karte ausstellen zu lassen“, erklärt sie mit Blick auf die gültige Marke.
„Wir müssen nun zweigleisig fahren“, fährt sie im BVG-passenden Vokabular fort. Das heißt, Tobias bekommt eine neue Marke, und der Kontrolleur, dessen Dienstnummer Tobias hat, wird ermittelt. „Ich hab ihm immer gesagt, die Papiere müssen in Ordnung sein“, belehrt Tobias' Großvater, der zur moralischen Unterstützung mitgekommen ist, seinen Enkel. „Gut, dann muß ich das nicht machen“, bedankt sich Reyer. Sie notiert Ort, Zeit, Hergang des Vorfalls und „nichtkooperatives Verhalten“ des BVGlers. Außerdem macht sie eine Kopie der Visitenkarte einer Rechtsanwältin, die Zeugin des Vorfalls war. Reyer versichert, daß dem Kontrolleur ein „klärendes Gespräch mit seinem Vorgesetzten“ blüht und Tobias von ihr hören wird.
Das ist die BVG auf ganz neuen Gleisen: Was bisher schlicht Beschwerdestelle hieß, fungiert seit kurzem unter dem Namen „Qualitätsservice“. Sicherheitshalber hat jemand auf der Orientierungstafel für das Haus in der Lorenzstraße in Tempelhof den verständlichen Ausdruck „Beschwerdestelle“ dazugekritzelt.
„Der neue Name ist Programm“, erklärt Michael Grunwald, Chef der neuen Abteilung. Ein Programm, zu dem er das passende Vokabular auf Lager hat: Die vierzehn Mitarbeiter der neuen Abteilung arbeiten eng zusammen mit „Qualitätskoordinatoren“ (BVGlern), um die „Hebelpunkte“ zur Beseitigung von Mißständen aufzudecken. Jeder „Krümel im Getriebe“ soll aufgespürt werden. Dazu soll auch eine „zweiköpfige Kundenbetreuung“ beitragen, die Konzepte für Kunden wie Schwerbehinderte und Verbände ausarbeiten soll. Denn es geht darum, Busunternehmen, die sich mittlerweile an der Ausschreibung von Buslinien bewerben können, auszustechen und verlorene BVG-Schäfchen zurückzuholen.
Von den 950 Millionen Fahrgästen pro Jahr beschweren sich etwa 15.000. Über 20 Prozent der Beschwerden betreffen Kontrollen und fehlendes Wechselgeld an Fahrkartenschaltern, knapp 20 Prozent Diskrepanzen bei Anschlüssen. 26 Prozent entfallen auf „Sonstiges“ wie Linienänderungen, Haltestellenverlegungen, Lärm und Tarife.
Um zukünftig auch „sehr individuelle Eingaben“ erfassen zu können, so Grunwald, soll ein „Maßnahmenkatalog“ mit insgesamt achzig Positionen erarbeitet werden. Dazu verteilt die BVG ab nächster Woche „Dialogkarten“, auf denen die Kunden „Anregungen, Lob oder Reklamationen“ mitteilen sollen. „Wir möchten, daß Sie sich bei uns wohl fühlen“, heißt es auf den Karten, die auch unfrankiert zur BVG geschickt werden können. Auf Infokarten in Visitenkartenformat, die jeder Fahrer oder Zugabfertiger bei sich tragen soll, werden die Telefon- und Faxnummern vom „Qualitätsservice“ mitgeteilt.
Die Mitarbeiter der Beschwerdestelle mit dem hypermodernen Namen bekommen das ehrgeizige Vorhaben hautnah zu spüren. Erhielten sie vor dem „Qualitätssprung“ etwa 40 Anrufe pro Tag, sind es mittlerweile 250. „Danach ist man alle“, beschreibt Hartmut Bechstein seinen Zustand nach solch einem Tag. Trotzdem gefällt ihm sein Job jetzt besser. Denn statt die Anfragen und Beschwerden auf Nimmerwiedersehen weiterzuleiten, werde nun ein Vorgang bis zur Klärung bearbeitet. Wenn beispielsweise ein Kunde bemängelt, daß der Weg von einer S-Bahn-Station zur Bushaltestelle viel zu lang sei, schickt Bechstein einen Kollegen vor Ort. Stellt sich heraus, daß die Situation nach einer Haltestellenveränderung schreit, verfaßt er einen Hausbrief.
Der 55jährige, der seit 35 Jahren bei der BVG arbeitet, weiß, daß solch eine Verlegung wiederum für „erheblichen Kummer“ bei denjenigen sorgt, denen die Haltestelle vor der Haustür genommen wird. „Es ist schwer, denen das klarzumachen“, so Bechstein. Doch der gelernte Bäcker, der lange Zeit als Weichensteller gearbeitet hat, begegnet selbst Drohungen mit der Presse oder dem Regierenden Bürgermeister äußerst gelassen: „Das regt mich nicht mehr auf.“ Barbara Bollwahn
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