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„Rußland hat immer an Wunder geglaubt“

Die orthodoxe Kirche predigt die Wiedergeburt Rußlands – Seite an Seite mit nationalistischen und kommunistischen Kräften. Junge Menschen wenden sich ab, und Reformer werden mundtot gemacht  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Baut eine Kirche im Geiste, die ihr an der Macht seid, aber nicht auf den Knochen des Volkes“, lautet ein Eintrag im Gästebuch des Museums in der Wolchonkastraße in Moskaus altem Stadtkern. Durch die Glasfront des eilig aufgestellten Pavillons, der die musealen Kleinode der unter Stalin abgerissenen Christi-Erlöser-Kathedrale beherbergt, fällt der Blick auf das ehrgeizigste Bauprojekt der Hauptstadt. Bis zur 850-Jahrfeier Moskaus 1997, in nur zweieinhalb Jahren, soll das Gotteshaus in alter Pracht, aber mit modernisiertem Interieur wiedererstehen. Es wächst fast täglich. Schon bald übersteigt der Betonrohbau die Türme des Kreml. Doch der unebenen Verklinkerung ist die Hast anzusehen. Was ein Fünfjahrplan einäscherte, soll ein titanischer Kraftakt wiedererrichten und ungeschehen machen.

„Eine russische Familie“, steht unter der kritischen Anmerkung im Gästebuch. Ihre Stimme versinkt in einem Heer von lobrednerischen und pathetischen Preisungen, die mit dem Wachsen des Gotteshauses zugleich eine Wiedergeburt des erniedrigten Rußland heraufbeschwören. Die Kathedrale ist mehr als nur eine Kirche. Sie symbolisiert nicht allein die neue Kraft der Religion nach 70 Jahren Demütigung der Orthodoxie durch den Kommunismus, sie versinnbildlicht auch den Drang, der Welt die „eigene Größe“, wenn nicht gar Überlegenheit zu demonstrieren.

Seit die Kirche wieder frei walten kann, ist sie zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden. Kaum ein Anlaß, bei dem sie nicht zugegen wäre. Priester weihen Banken, Schulen und Geschäfte. Soldaten erhalten ihren Segen, bevor sie in den Krieg gegen die eigenen, doch andersgläubigen Staatsbürger in Tschetschenien ziehen. Politiker, die noch vor wenigen Jahren Atheismus predigten, drängeln sich bei Auftritten an die Seite geistlicher Würdenträger, vielleicht auf der Suche nach Identität, indes wahrscheinlicher nach leihbarer Autorität.

Die wachsende Kumpanei zwischen Staat und Kirche blieb nicht folgenlos. Die Gesellschaft wendet sich wieder von ihr ab. Während der Zerfallsphase des Kommunismus stürmten die Menschen geradezu die Kirchen, in der Hoffnung auf Sinngebung. Die Orthodoxie erwies sich darauf damals als nicht vorbereitet, wie sollte sie es auch? Dennoch avancierten Popen zu gefragten Ratgebern. Inzwischen prägen wieder alte Frauen das Bild der Gotteshäuser, die landauf, landab ihre Tore öffnen konnten. Umfragen belegen hingegen, daß die Religion als ethisches Leitmotiv von ihrer Anziehungskraft in den letzten Jahren nichts eingebüßt hat. Eine umfangreiche Studie des Soziologen Jurij Lewada stellt fest: „Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht zum Glauben bekennt, offenbart sie einen Hang zum Religiösen.“ Die Wissenschaftler beschrieben die Russen zwar als ein „areligiöses Volk“, das aber trotz allem auf Religion baue: „Offensichtlich schließen auch die areligiösen Vorstellungen die geistige Autorität der Religion nicht gänzlich aus“, resümiert Lewada.

Etwa 35 Millionen Russen bekennen sich zum Glauben. Daran hat sich seit Beginn der 90er Jahre nichts geändert. Doch von zehn „streng Gläubigen“ gingen bereits 1993 nur noch vier einmal im Monat zum Gottesdienst. Mehr als die Hälfte der Gläubigen ist über 50 Jahre alt, die junge Generation fühlt sich von der Orthodoxie kaum angesprochen. Das müßte der Kirche zu denken geben. Zumal Sekten, obskure und okkulte Glaubensgemeinschaften regen Zulauf verzeichnen. Was soll die Jugend von Erzbischof Wladimir von Mittelasien halten, der glaubt, noch heute öffentlich Rockmusik geißeln zu müssen: „Eine Klangdroge, die ihre Herkunft aus heidnisch rituellen Rhythmen nicht verbirgt“, schrieb er unlängst in der Zeitung Orthodoxes Moskau. Jüngere, kritischere Zeitgenossen quittieren den Anachronismus weihrauchschwingender Priester vor Baugruben und U-Bahn- Schächten denn auch mit mitleidigem Lächeln. Es ist die Angst vor westlichem Gedankengut, die Abneigung gegen ein Individuum, das sich frei und ungezwungen bewegt, das seine ethischen Maßstäbe nicht nur von einer übergeordneten moralischen Autorität widerspruchslos empfängt, sondern sein Verhältnis zur Welt auch aus sich selbst heraus bestimmt. Die orthodoxe Kirche will keinen Gläubigen, der denkt, sie will ihn nur glauben lassen. Sie hat sich nie um Aufklärung, um so mehr aber um tumbe Seelen bemüht. Für die kommunistischen Machthaber war sie deshalb bequem, weil sie sich zu keiner offiziellen Meinung, nicht einmal in moralischen Belangen, durchringen konnte.

Wladimirs Vorwurf des „heidnisch Rituellen“ befremdet, denn im Vergleich zu anderen Konfessionen frönt die Orthodoxie ungebändigter Sinnenfreude. Bewußt werden im Gottesdienst alle Sinne angesprochen, bis hin zum Tast- und Geschmackssinn bei der Kommunion. Die Botschaft der Bibel tritt in den Hintergrund, wo sinnliche Verkündigung dominiert. Angefangen bei den vielen Leuchtern, Bildern und farbenprächtigen Gewändern, deren symbolische Bedeutung nur die wenigsten Gläubigen kennen. Das gleiche gilt für die Sprache der Liturgie, das Altkirchenslawische, das nur wenige beherrschen. Allzusehr übernimmt die Form die Botschaft des Inhalts. Ikonen werden zu direkten Repräsentanten Jesu Christi. Der Unterschied zu Götzenkulten in heidnischen Tempeln ist lediglich eine Frage spitzfindiger Interpretation, wo das biblische Verbot der Abbildung alles Göttlichen umschifft wird. Die Orthodoxie ist indes stolz auf ihre seit Jahrhunderten unveränderte Liturgie. Die Ambivalenz heidnisch antiker Rituale, die in der Frühphase des Christentums zwangsläufig instrumentalisiert und integriert wurden, wirft keine Probleme auf. Doch fördert die Fixierung auf das Ritual den Hang zur Mystik, zum Wunder- und Aberglauben, die in der russischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Jüngstes Beispiel: Während der tschetschenischen Geiselnehmertragödie im russischen Budjonnowsk, wo Hunderte Menschen auch durch russische Hand starben, sei die „Gottesmutter“ am Himmel erschienen und habe der Katastrophe Einhalt geboten. „Schriftliche Beweise der Erscheinung der Gottesmutter werden dokumentiert“, schreibt der Pope Gennadij Belowolow. Sein befreiendes Fazit: „Rußland hat immer an Wunder geglaubt.“

In den vergangenen zwei Jahren näherten sich die Sprachen der offiziellen Politik und der Kirche an. Der Kreml bedient sich erneut chauvinistischer und imperialistischer Töne, die im Klerus immer dominierten. Nur übersetzte es die Kirche nicht in eine direkte politische Sprache. Sie forderte schlicht, an der „russischen Idee“ festzuhalten. In Zeiten fundamentalen Umbruchs kann es einer Gesellschaft nicht schaden, an eigenen Traditionen und Werten festzuhalten. Doch die „russische Idee“, deren ideeller Gehalt und philosophische Tiefe nur schwer auszuloten sind, beschränkt sich nicht auf einen Wertekonservatismus. In letzter Konsequenz verbirgt sich in ihr ein messianischer Auftrag, an dem die Welt genesen soll. Es ist nicht die Reinheit der orthodoxen Lehre allein, woraus der Klerus seine Überlegenheit ableitet. Vielmehr überträgt er es auf die russische Lebensweise, das Russentum als Ganzes. Bei Dostojewskij und in der russischen Religionsphilosophie begegnen wir denn auch dem Konstrukt eines Allmenschen, der für sich so etwas wie Ganzheitlichkeit reklamiert. „Ist das russische Volk der Gottesträger, so folgt daraus seine einzigartige Ausschließlichkeit und Selbständigkeit mit eiserner Notwendigkeit“, schrieb der Soziologe und ehemalige Staatspräsident der Tschechoslowakei Thomas Masaryk in einer Abhandlung zur „politischen Theologie“ bei Dostojewskij, der in seinem Tagebuch die Behauptung aufstellte: „Wir sind stärker als alle anderen“, daher gehöre die Zukunft Europas Rußland. Aus dem Allmenschentum wird flugs die Begründung des zaristischen Imperialismus, während die russische Idee sich in eine Machtfrage verwandelt. Zum eigentlichen Retter Rußlands avanciert der asketisch lebende Mönch, der Starez, die geistliche Autorität eines Klosters. Er entpuppt sich als der eigentliche Zar.

In der vom Moskauer Patriarchat und Alexej II. Herausgegebenen Zeitung Rus derschawnaja – „Großmacht Rus“ – finden sich ähnliche Gedanken. Das Ziel der Perestroika sei es gewesen, die Russen westlichen Standards anzunähern, ihnen „ihre Tradition auszutreiben“. Doch was „hinterm Ozean auf Computern ausgeheckt wurde“, werde sich nicht wie geplant verwirklichen lassen. Denn „dieser riesige, eigenartige, Fremden unbegreifliche geographische Raum – unser Rußland – ist nach Meinung vieler Denker Herz, Hirn und Seele des Planeten“. Geographie ersetzt die Kultur, Masse und Majorität stellen die ausschlaggebenden Faktoren.

Es schließt sich die Hoffnung an, die Jugend werde nicht auf die „Lügen eines schönen Lebens“ hereinfallen. Daß der Westen das Recht des Individuums zum höchsten Gut erklärt, bleibt unerwähnt. Daß die einfachen Menschen im reichen Rußland jahrhundertelang ein Leben in verordneter Armut führen mußten, nun aber meinen, ein Anrecht auf ein besseres Dasein zu haben, gerät schon in den Ruch der Sünde. Der Klerus ahnt, in einem autoritären Regime, das sich mit der Kirche gut stellt, fällt ihm größere Bedeutung zu. Bis heute hat sich in vielen unbedarften Seelen das Gebot lebendig erhalten: „Der Kirche widerspricht man nicht.“ Die Öffnung der Gesellschaft birgt für sie indes eine Gefahr, die sie folgerichtig bannen möchte.

Schon beim Putsch des reaktionären Parlaments im Oktober 1993 hatte sich die Kirchenführung fast unverhohlen auf die Seite der nationalistischen und kommunistischen Opposition geschlagen. Monate vorher verbreiteten militante Kirchenvertreter wie der kürzlich verstorbene Metropolit von St. Petersburg und Ladoga, Ioann, in einschlägigen Kampfblättern faschistisches und antisemitisches Gedankengut, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Ioann beklagte die „Satanisierung der russischen Wirklichkeit“ und hatte dabei besonders die Menschenrechte im Auge, die für die russische Gesellschaft verderblich seien. Sein Plädoyer mündete in einen „vernünftigen Isolationismus“.

Er sprach aus, was andere denken: Die Wiedergeburt des russischen Imperiums durch Auferstehung der russisch-orthodoxen Kirche. Moskau – doch noch ein „Drittes Rom“. Metropolit Kirill von Smolensk und Kaliningrad, der für die Außenbeziehungen beim Moskauer Patriarchat zuständig ist, schrieb kürzlich: „Die einzige Kraft, die dazu fähig ist, die russische Idee zu befruchten und zu realisieren, ohne die universelle Mission unseres Volkes für immer zugrunde zu richten, ist die orthodoxe Kirche.“

Die russisch-orthodoxe Kirche fühlte sich immer als Staatskirche, ein Bündnis mit Nationalisten scheint daher natürlich und geradezu gottgewollt. Bei den unzähligen Grüppchen und Gruppierungen der extremen Rechten sind immer auch Popen zugegen, kaum ein Kosakenkorps, das nicht von einem Geistlichen betreut würde. Chauvinisten wie der militante Gruppenführer Alexander Bakaschow ziehen sich zum Training in ein Kloster zurück. Die Rechte und die Kirchenführung treffen sich auch in ihrer kritiklosen Unterstützung der Serben im Bosnienkonflikt. Metropolit Kirill empfing Serbenführer Karadžić in Moskau. Patriarch Alexej II. weilte bei den orthodoxen Brüdern in Serbien. Der Krieg wird auf eine einfache Formel reduziert, der in der kirchlichen Presse schon mal als ein langfristig geplanter Schlag des Westens gegen die Orthodoxie und damit gegen Rußland ausgelegt wird.

Über alldem vergißt die Kirche ihre eigentliche Aufgabe. Den Menschen der posttotalitären Gesellschaft Lebenshilfe zu sein, einen Sinn zu bieten. Ihr verbitterter Widerstand gegen das Eindringen anderer Glaubensgemeinschaften nach Rußland erklärt sich vor allem aus ihrem Unvermögen, darauf Antworten zu geben. Das Gesetz, das die Orthodoxie wieder zur Staatskirche erheben wollte, hat Präsident Jelzin nicht unterzeichnet. Doch wurde das Wirken anderer Konfessionen durch eine Reihe bürokratischer Auflagen erheblich erschwert.

Selbstverständlich gibt es auch in der Orthodoxie einen Reformflügel, nur ist er in der Kirchenspitze nicht vertreten. Eine der liberalen Frontfiguren ist Vater Gleb Jakunin. Die Synode erkannte ihm vor zwei Jahren die Priesterweihe ab, weil sich Jakunin trotz Verbots zu den Dumawahlen aufstellen ließ. Man hatte nämlich zuvor beschlossen, Kirchenvertreter dürften an Wahlen nicht teilnehmen. So sollte der Eindruck entstehen, die Kirche sei eine über der Politik stehende moralische Institution. Dieser Versuch ging nach hinten los. Den Zorn des Patriarchen zog sich auch der junge Priester Georgij Kotschetkow zu. Er hatte den Frevel begangen, den Gottesdienst statt in kirchenslawisch auf russisch zu halten. Zudem hatte er den Blick auf den Altarraum, der gewöhnlich von einer Ikonenwand verstellt ist, freigegeben. Kotschetkow geriet auf mysteriöse Weise in einen Autounfall, überlebte ihn aber. Dann folgte seine Zwangsversetzung. Internationale Proteste verhinderten seine Exkommunizierung.

Über kurz oder lang dürfte der Orthodoxie dennoch eine „Reformation“ oder gar Spaltung ins Haus stehen, nach dem Abgang der „Sowjetriege“ aus der Führung. Die Reformer haben es sich zum Ziel gesetzt, ihre Aufgaben neu zu bestimmen, sozial und seelsorgerisch tätig zu werden. Die orthodoxe Lehre kannte bisher weder Diakonie noch eine Soziallehre. Doch das ist es, was Rußland am dringendsten braucht. Eine Kirche, die „nicht wieder auf den Knochen des Volkes“ errichtet wird.

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