: Eine neue Reformation
■ Keine Ruhe mehr nach dem Kirchenvolksbegehren
Die katholische Kirche in Deutschland steht an einem dramatischen Wendepunkt. „Wir sind Kirche“, diese Losung des jetzt abgelaufenen Kirchenvolksbegehrens signalisiert, daß die katholischen Christinnen und Christen aufgehört haben, brave Lämmer zu sein, die den Geboten und Verboten ihrer Oberhirten Gewissensgehorsam schuldig sind. Das Kirchenvolksbegehren war ein Aufstand des Gewissens im Kirchenvolk gegen den autoritären Alleinvertretungsanspruch der Kirchenoberen. Die Demokratisierung der römischen Kirche wurde nicht nur begehrt, vielmehr wurde sie gegen den Widerstand fast der gesamten Kirchenführung ohne Skrupel praktiziert.
Der Frust über die Betonköpfe im Vatikan und die zum Funktionieren degradierten Bischöfe angesichts des gewaltigen Reformstaus war so groß, daß die Empörung ihren freien Lauf nahm. Schon jetzt steht fest, daß dem aus dem Feudalzeitalter und der absoluten Monarchie stammenden autoritären Kirchensystem vom Kirchenvolk ein demokratisches Verfallsdatum aufgestempelt worden ist. Die 1,5 Millionen Katholiken, die ihre Unterschrift geleistet haben, sind nur die Spitze eines Eisbergs, Meinungsumfragen haben bestätigt, daß über die Hälfte der kirchentreuen Katholiken hinter dem Kirchenvolksbegehren stehen. Dieses Begehren ist kein „einmaliger“ Aufschrei der gequälten Seelen, die sich wieder in ihre Gehäuse zurückziehen werden, sondern der eigentliche Auftakt zur praktischen Umsetzung an der Basis der Kirche. Der Öffentlichkeit sollte jetzt bewußt sein, daß die versteinerte katholische Kirche zu einer „Kirche in Bewegung“ gewandelt worden ist.
Es mag übertrieben klingen. Es ist ein Prozeß der „Reformation“ eingeleitet worden, ein Prozeß, der nicht zu einer neuen Spaltung führen soll, sondern der die noch Kirchentreuen und die an der Kirche Verzweifelten zusammenführen will. Die Wirkung dieser innerkirchlichen Erneuerung geht über den engeren konfessionellen Rahmen hinaus und zielt auf eine alle Kirchen umfassende gemeinsame Reformation, die schrittweise verwirklicht wird. Die Protestanten sind angesprochen, gehören sie doch Kirchen an, deren reformatorische Dynamik versandet ist. Und was die sogenannten Ungläubigen angeht: Ist es nicht auch für sie eine frohe Botschaft, den zentralistischen Fremdkörper, der wie ein Eisklotz in der ihn umgebenden Demokratie steht, abschmelzen zu sehen? Harald Pawlowski
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