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Hitlers Helfer vor dem Kadi

Vor fünfzig Jahren eröffnete der Internationale Militärgerichtshof im zerstörten Nürnberg den Prozeß gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher  ■ Von Klaus- Konstantin Sondermann

Der Mann kannte keine Selbstzweifel. „In fünfzig oder sechzig Jahren werden in ganz Deutschland Standbilder Hermann Görings zu sehen sein“, orakelte der Reichsmarschall a.D.: „eines in jedem Hause.“ Fast frohgelaunt hatte sich der morphinsüchtige Vizediktator einen Tag nach Kriegsende amerikanischen Soldaten gestellt. Allen Ernstes hoffte er, mit Eisenhower „von Mann zu Mann“ über Deutschlands Zukunft sprechen zu können.

Aber die Alliierten hatten sich im November 1943 schon darauf geeinigt, die nationalsozialistischen Verbrechen zu sühnen. Göring wurde verhaftet und traf zehn Tage später im luxemburgischen Monheim ein. In der Sammelstelle für braune Bonzen endete die „größte Menschenjagd aller Zeiten“, wie der britische Außenminister Anthony Eden die Suche nach Hitlers Mannen nannte. Das Monheimer Stelldichein war die erste Etappe auf dem Weg zum „Internationalen Militärtribunal“ (IMT) der Alliierten in Nürnberg.

Die Frankenkapitale wurde mit Bedacht gewählt: In der „Stadt der Reichsparteitage“ sollte das braune Räderwerk obduziert und verurteilt werden. Am 20. November 1945 begann der erste Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß in einem der wenigen unzerstörten Gebäude der Stadt, dem früheren Justizpalast.

Juristische Kärrnerarbeit ging dem Eröffnungstag voraus, als die vier allierten Richter und ihre Beisitzer ihre Arbeit aufnahmen. „Der Prozeß, der nun eröffnet wird, steht einzig in der Geschichte der Rechtspflege der Welt da und ist von größter Bedeutung für Millionen von Menschen in der ganzen Welt“, begann Sir Geoffrey Lawrence, der Vorsitzende Richter. Tatsächlich war dieser Prozeß einzigartig, auch wegen seiner komplexen Rechtsproblematik:

Einen Internationalen Gerichtshof gab es nicht, und so saß eine Allianz von Staaten unterschiedlicher Justiztradition über den staatlich organisierten Verbrechen des geschlagenen Kriegsgegners zu Gericht. Dabei mußte der Eindruck ordinärer Rachejustiz vermieden werden. Man räumte den Beschuldigten ein „ordentliches“ Tribunal mit fairer Chance zur Verteidigung ein. Dabei zeigte die schwerfällige Prozedur durchaus juristische Schwachstellen: Ankläger, Richter sowie die Verfasser der IMT-Statuten rekrutierten sich aus den Reihen der Sieger. Weiterhin mußte entgegen jeder Rechtsgepflogenheit der eherne Grundsatz „Keine Verurteilung ohne vorherige Strafregelung“ wissentlich verletzt werden. Jeder Angeklagte sollte – dem „Befehlsnotstand“ keine Chance! – für seine individuellen Verbrechen belangt werden.

Mit auf der Anklagebank saßen, trotz Verneinung von „Kollektiv- oder Staatshaftung“, auch die Reichsregierung, Gestapo, SA, SS, SD und die Partei- und Wehrmachtsführung: „Tausend kleine Führer diktierten“, erklärte der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson, „tausend Görings liefen herum, tausend Schirachs hetzten die Jugend auf, tausend Sauckels ließen Sklaven arbeiten, tausend Streichers und Rosenbergs schürten den Haß, tausend Kaltenbrunners folterten und töteten, tausend Schachts, Speers und Funks verwalteten, unterstützten und finanzierten die Bewegung.“

Die Anklage bezog sich auf vier Punkte: „Gemeinsame Verschwörung“, „Verbrechen gegen den Frieden und Führung eines Angriffskrieges“, „Kriegsverbrechen“ sowie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Der letzte Punkt war bahnbrechend neu.

Die zur Anklage stehenden Straftaten drohten bisherige juristische Möglichkeiten eines Gerichts zu sprengen: Völkermord kam im Völkerrecht nicht vor. „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchten“, klagte Jackson, „waren so ausgeklügelt, so böse..., daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, diese unbeachtet zu lassen. Sie würde sonst eine Wiederholung nicht überleben... Die wahre Klägerin ist die Zivilisation.“

Die 20 Beschuldigten, die an diesem Novembertag in zwei Holzbänken dem Richtertisch gegenübersaßen – SD-Chef Kaltenbrunner als 21. Angeklagter stieß erst gegen Ende des Jahres dazu, „Führersekretär“ Bormann blieb verschollen –, waren von den Alliierten so ausgewählt worden, daß im Prozeß möglichst alle Facetten des „Dritten Reichs“ zur Verhandlung kämen. Hinter ihren deutschen Verteidigern sitzend, studierten die einen nochmals die Anklageschrift, die sie schon seit Wochen kannten. Andere spielten an der Wählscheibe einer eigens entwickelten Apparatur für die viersprachige Simultanübersetzung. Die meisten aber dämmerten vor sich hin. Sie waren müde: Die Häftlinge durften in ihren Zellen nur mit dem Gesicht nach rechts und im Schein einer hellen Lampe schlafen, um mögliche Selbstmordversuche rechtzeitig abzuwehren.

„Niemals habe ich kleinere Männer gesehen, die größeres Unheil angestiftet haben“, schrieb Hans Habe als Reporter der Neuen Zeitung. „Es war nicht ein einziger unter ihnen, der auch nur die geringste Haltung bewies.“

Gleich zu Beginn wollte Göring das Tribunal zum Forum einer Gegenanklage an die Adresse der Briten und Amerikaner machen, um den nationalsozialistischen Angriffskrieg und Genozid gegen den alliierten Bombenterror aufzurechnen. „Bevor ich die Frage des Hohen Gerichtshofs beantworte, ob ich mich schuldig oder nicht schuldig bekenne...“, setzt der Reichsmarschall am zweiten Verhandlungstag an. Prompt stoppt ihn der Vorsitzende: „Ich habe dem Gerichshof bekanntgegeben, daß die Angeklagten nicht das Recht haben, eine Erklärung abzugeben. Sie müssen sich schuldig oder nicht schuldig bekennen.“ Natürlich kannte Göring weder Schuld noch Reue. Sowenig wie irgendein anderer auf der Anklagebank.

„Der Sieger wird immer der Richter und der Besiegte stets der Angeklagte sein“, schrieb Göring resigniert auf das Papier der Klageschrift. Doch im März 46 sollte der „Nazi Nummer eins“, wie Göring sich selbst bezeichnete, seinen Auftritt bekommen. Insgesamt zwölf Prozeßtage nahm sein Fall in Anspruch, weit mehr als das Gericht jedem weiteren Beschuldigten einzuräumen bereit war. Die Richterbank sah den Schlüsselmoment des Prozesses im Kreuzverhör Görings. Hier mußte sich beweisen, ob den braunen Drahtziehern ihre offenbare Schuld nachzuweisen war. Ein Scheitern im Fall Göring hätte alle weiteren Anklagen in größte prozeßtaktische Schwierigkeiten gebracht.

Ein durch Gefängniskost wieder schlank gewordener Göring nahm im Zeugenstand Stellung zu Fragen, die ihm sein Anwalt Dr. Stahmer stellte. Über zwei Prozeßtage konnte er seine Sicht der NS- Geschichte ausbreiten. Das Gericht ließ Göring ungestört gewähren, da er mit vielen historischen Details aufwarten konnte. Letztlich hätten nach Görings Meinung alle Mittel den Zweck geheiligt: Wiedergewinnung der durch Versailles verlorenen Gebiete plus solcher, die das deutsche Volk zu seiner natürlichen Entwicklung brauche. Und überhaupt, war nicht der alliierte Luftkrieg gegen Deutschland ebenso verbrecherisch, versuchte Göring das Tribunal umzudrehen. „Das war der Göring von früher, als er noch vernünftig war“, kommentierte ein Mitangeklagter. Und der britische Richter Norman Birkett notierte am 18. März: „Er verfügt über beträchtliches Wissen und hat in dieser Hinsicht der Anklagebehörde einiges voraus, denn er bewegt sich stets auf vertrautem Boden.“

Das traf exakt das Kardinalproblem dieses Prozesses wie auch aller zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, die bis 1949 – allerdings nun vor einem US-Gericht – gegen führende NS-Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung stattfanden: Die Beschuldigten wußten im Detail fast immer besser Bescheid als ihre Ankläger.

Trotzdem gelang es, den Hauptkriegsverbrecherprozeß bis zum Herbst abzuschließen. Nach 218 Verhandlungstagen sprachen die Richter am 1. Oktober 1946 die Urteile: zwölf Todesurteile, dreimal Haft auf Lebenszeit, viermal 20 beziehungsweise 15 Jahre Haft, drei Freisprüche, und zwar gegen sowjetisches Votum.

Zwei Wochen später waltete US-Sergeant John C. Woods seines Henkeramtes. Göring setzte sich am Vorabend mit Zyanid selbst ein Ende, Bormann lag als unbekannte Leiche unter Berliner Trümmerschutt. Die zum Tode Verurteilten wurden am 16. Oktober 1946 erhängt, später verbrannt und ihre Asche bei Nacht und Nebel in die Isar gekippt.

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