: „Go to see those beautiful dames!“
Busby Berkeley, der erste und größte Musical-Regisseur der Welt, wäre heute 100 Jahre alt geworden ■ Von Lars Penning
„Meliès des Musicals“ nannte man ihn, oder auch „Michelangelo des Kitsches – und offenbarte damit gleich den Zwiespalt: Zwar betrachtete man den Regisseur und Choreographen Busby Berkeley meist als hochrangigen Künstler und Techniker, aber sein Genre galt als Schund. Wie kaum eine andere Filmgattung ist das amerikanische Musical in Deutschland ein Opfer von Mißverständnissen und Vorurteilen geworden und füllt heute anstelle von Kinosälen bestenfalls noch Sendeplätze im sonntagnachmittäglichen Fernsehprogramm.
Während sich in den frühesten Tagen des Tonfilms Musiknummern weitgehend auf eine theatralische Darbietung beschränken, entdeckte Berkeley sehr schnell die Möglichkeit, mit Film einen vollständig fiktiven Raum zu erschaffen. „Ich erkannte bald, daß man die Augen im Theater hinwandern lassen kann, wohin man möchte; im Kino gibt es (...) nur das eine Auge der Kamera. Aber mit dem konnte ich überall hingehen, wohin ich wollte. Man hätte meine Dekorationen niemals auf eine wirkliche Bühne bekommen, aber das war mir egal. Ich wollte nur etwas Unterhaltsames und Spektakuläres schaffen“, erzählte Berkeley in einem Interview.
Und spektakulär waren seine Choreographien allemal. Bereits für seine ersten Inszenierungen ließ er sich von Richard Day, dem Art Director des Goldwyn-Studios, riesige Art-deco-Sets bauen, die dann von der Kamera mit Hilfe von komplizierten Kranfahrten durchquert wurden. In „The Kid From Spain“ (1932) ist zum Beispiel der Mädchen-Schlafsaal eines Internats, wo die „Goldwyn Girls of 1932“ (mit Paulette Goddard, Betty Grable, Jane Wyman und Toby Wing) ihrer Morgentoilette nachgehen, ein riesiger, glamouröser Raum mit mehreren Stockwerken, gewaltigen Treppenkonstruktionen, einem Swimmingpool und einer Wasserrutsche.
Bevor Samuel Goldwyn ihn 1930 bat, die Musiknummern für den Eddie-Cantor-Film „Whoopee“ zu inszenieren, hatte der am 29. 11. 1895 als Sohn einer Schauspielerin und eines Theaterregisseurs geborene Berkeley mit den von Rogers und Hart geschriebenen Musicals „A Connecticut Yankee“ und „Present Arms“ große Erfolge als Regisseur am Broadway. Was um so erstaunlicher war, als Berkeley so gut wie nichts vom Tanzen verstand. Seine Stärke war die Choreographie, größere Menschenmengen in geometrischen Mustern und synchroner Bewegung zu organisieren – ein Talent, das er als Armee-Ausbilder im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte, als er neue Exerzierübungen für die Soldaten erdachte. Die Schlußnummer von „Footlight Parade“ (1933), die mit einer Parade amerikanischer Truppen vor dem Abmarsch aus China endet, ist die deutlichste Reminiszenz an jene Tätigkeit – doch auch in den nicht militärischen Showeinlagen seiner Filme hatten die „Girls“ immer einen ausgesprochenen Hang zum Marschieren. Seine „Mädchen“ suchte Berkeley stets nach ihrem guten Aussehen und nicht nach den tänzerischen Fähigkeiten aus. In „Dames“ (1934) verkündet Hauptdarsteller Dick Powell in einem Song Berkeleys Credo: „What do you go for? Go see the show for? Tell the truth, you go to see those beautiful dames!“
Der tatsächliche „Tanz“ in seinen Choreographien bestand meist aus simplen Formen des Steptanzes; das Einstudieren der Schritte mußte Berkeley jedoch an andere Tanzlehrer delegieren. Am Broadway hatte er ob seiner geringen Kenntnisse deshalb den Spitznamen „One-Two-Three-Kick! Kid“.
Was Berkeley neben den „Girls“ wirklich interessierte, war die Kamera. Bei seiner Ankunft in Hollywood brach er augenblicklich mit zwei lange gepflegten Traditionen: Bisher war der Regisseur der Spielhandlung eines Films auch für die filmische Umsetzung der Musiknummern zuständig gewesen; der Dance-director studierte mit den Tänzern lediglich die Choreographie ein. Berkeley wollte jedoch nicht nur die Tänzer herumscheuchen, sondern auch die Kamera bewegen und verlangte deshalb die komplette Verantwortung für die Regie der Musiknummern. Außerdem war es bis dahin üblich, alle Einstellungen mit mehreren Kameras aus verschiedenen Perspektiven aufzunehmen und erst im Schneideraum eine Auswahl zu treffen. Berkeley ließ jedoch sofort alle Kameras bis auf eine entfernen. Später erzählte er: „Mein Gedanke dabei war, jede Einstellung zu planen und in der Kamera zu schneiden.“ Diese Methode bedurfte exakter Vorausplanung: Jeder Tanzschritt und vor allem jede Kamerabewegung wurde bis zur Perfektion eingeübt. Stets nahm die Kamera bei Berkeley aktiv am Geschehen teil; er scheute keine Perspektive und keinen Trick-shot, um seine Visionen zu verwirklichen. Seine Kamera kroch auf dem Boden, wurde verkantet, auf den Kopf gestellt oder schien durch den Raum zu schweben. Berkeleys berühmteste Einstellung war der senkrechte Kamerablick auf die in kaleidoskopartigen Mustern arrangierten „Chorus-Girls“, der sogenannte „Berkeley-Top-shot“, der in einigen Fällen bis zur kompletten Abstraktion getrieben wurde.
Nachdem er bei Goldwyn stets mit Budgetbeschränkungen zu kämpfen gehabt hatte, konnte sich sein Stil nach dem Wechsel zu Warner Bros. im Jahre 1933 in aller Pracht entfalten. Mit „42nd Street“ hauchte er dem Musical, das zwischenzeitlich als Kassengift gegolten hatte, neues Leben ein und konnte mit Filmen wie „Gold Diggers of 1933“, „Footlight Parade“ und „Dames“ den Erfolg wiederholen. Ab 1935 ließ man ihn auch die Spielhandlung der Filme inszenieren; später führte er sogar Regie bei Nichtmusicals, konnte dort jedoch keinen eigenen Stil entwickeln. Kritik hat Berkeley vor allem wegen seiner etwas pubertären Sichtweise der Sexualität einstecken müssen: So fährt die Kamera den „Girls“ beispielsweise häufiger zwischen den Beinen hindurch, oder sie schaut wie ein Voyeur hinter Jalousien und Paravents. Ein kleinwüchsiger Darsteller wurde oft als frühreifes Kind eingesetzt, das den Mädchen nachstellt; und das Muster, das zwei Reihen von Pianos in „Gold Diggers of 1933“ bilden, wirkt ausgesprochen vaginaförmig.
Im Gegensatz zu den Astaire- Rogers-Musicals, wo die Musiknummern integraler Bestandteil der Handlung waren und möglichst „unauffällig“ gefilmt wurden, um die Kontinuität der fließenden Bewegungen des berühmten Tanzpaares nicht zu unterbrechen, waren Berkeleys Nummern eigenständige Teile und sprengten den Rahmen „realistischer“ Filmhandlungen. Die Musiknummern wurden dabei im Kontext der Backstage-Musicals durch Proben oder Aufführungen motiviert. Für den Ablauf seiner Nummern hatte Berkeley ein häufig wiederkehrendes Modell entwickelt: Von einem Solo-Song ausgehend, wird dieser zunächst von einem vielköpfigen Chor wiederholt, um anschließend in einen Instrumentalteil überzugehen, der Berkeley Gelegenheit zu seinen avantgardistischen Experimenten gab. Schließlich kehrte die Sequenz wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
Ab 1939 arbeitete Berkeley für MGM, wo er mit „Babes in Arms“ den ersten gemeinsamen Film von Judy Garland und Mickey Rooney drehte, die sich anschließend zum neuen Musicaltraumpaar entwickelten. In späteren Jahren war Berkeley nicht mehr ganz so erfolgreich; seine Methode der Musicalinszenierung hatte sich schließlich überlebt. In seiner letzten Regiearbeit „Take Me Out to the Ball Game“ (1949) war er nicht einmal mehr für die Musiknummern zuständig – ironischerweise wurden diese von Gene Kelly und Stanley Donen inszeniert, deren Ansatz des integrated musical Berkeleys Ansichten diametral entgegengesetzt war.
Als Choreograph arbeitete er noch bis in die sechziger Jahre hinein. Den Höhepunkt seiner späten Arbeiten bilden die Wasserballette in den Esther-Williams-Filmen „Million Dollar Mermaid“ (1952) und „Easy to Love“ (1954). 1976 ist Busby Berkeley im Alter von 80 Jahren gestorben. Noch im letzten Video der Ärzte ist sein Einfluß zu spüren.
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