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Pädagogische Stützräder

In Jean Beckers neuem Film „Elisa“ inszeniert sich Vanessa Paradis noch in der Gosse als neue Bardot  ■ Von Stefan Reinecke

Es beginnt mit einem Donnerschlag. Die Kamera (Cinemascope!) folgt dem Rohrsystem in der Innenwelt eines Hauses, um schließlich durch das Waschbecken in eine Wohnung einzudringen. Dort folgt im Stenostil das Drama, das uns in den nächsten zwei Stunden in Rückblenden immer wieder begegnen wird. Weihnachten, Mutter und Tochter Elisa sind down and out: Mann weg, Wohnung gekündigt, Mutter versucht verzweifelt, das Kind zu töten und erschießt sich. Tochter überlebt, traumatisiert.

Sind wir in einem David-Lynch- Film? Leider nein. Denn auf diesen irreführenden establishing shot folgt eine gute Stunde lang ein Sozialmärchen: Elisa (Vanessa Paradis), nun knapp 20, wehrt sich gegen schlechtgelaunte Heimleiterinnen und spießige Großeltern, tingelt mit ihren Freunden durch Paris, klaut Klamotten und enttarnt die Doppelmoral der Gesellschaft so frech und nett, daß ihr niemand böse sein kann.

Jean Becker, Sohn von Jacques Becker („Le trou“), hat seit seinem Erfolg „Ein mörderischer Sommer“ (1983), jener Film, mit dem Isabel Adjani endgültig zum Star wurde, nichts mehr gedreht. Er hat einen passenden Stoff gesucht, gehadert und gezaudert – und es ist eine böse Ironie, daß „Elisa“ genau die Stärken von „Ein mörderischer Sommer“ vermissen läßt: Schauspielerführung und erzählerische Ökonomie. Nach der Überwältigungsästhetik der Ouvertüre wirken die kleinen Gaunereien zwischen Heim und Straße öde, das Cinemascope verschenkt. So wandert die Geschichte vor sich hin – zudem beladen mit inneren Monologen, in denen Elisa und ihre Kumpane, Freundin Solange und der 14jährige Ahmed, ihr Outcast-Leben reflektieren, das sich übrigens überraschend drogenfrei und gesittet gestaltet. Mit solchen pädagogischen und narrativen Stützrädern ausgerüstet, fuhrwerkt Becker im kinematographischen Baukasten herum wie ein Kind, das einen neuen Computer geschenkt bekommen hat und alles ausprobieren will. Selbst ein solider Schauspieler wie Philippe Léotard wirkt in einem Kurzauftritt – Label: vom Leben geschlagen, gerade deshalb tough – wie eine Selbstparodie. Auch Michel Bouquet als grundgütiger Onkel im Buchladen, der Elisa aus den Sternen liest, daß sie „das Geheimnis ihrer Herkunft“ ergründen wird, ist nur Zitat, Klischee. Der Plot will nun, daß Elisa ihren Vater aufspürt, einen versoffenen Fischer (Gérard Depardieu). Sie will ihn erst töten, dann verführen, dann erkennt sie, daß er unschuldig, der Tod ihrer Mutter nur ein Mißverständnis war. So schwankt „Elisa“ zwischen griechischer Tragödie, einem Märchen vom gefährdeten Mädchen, das wundersam in die Arme ihres schon verloren geglaubten Vaters zurückfindet, und reinem Kitsch. Wenn sich der Inzest anbahnt, prasselt das Feuer im Kamin, und der Wind pfeift ums Haus. Vor allem aber ist es ein Teenager-Film, in dem der Street- Slang nach Bravo klingt (zumindest in der Synchronisation).

Am interessantesten anzuschauen ist es noch, wie Vanessa Paradis mit Schmollmund und Engelslocken („Ein lebendiges Paradox verworfener Unschuld“ entdeckte der FAZ-Altherrenblick) den Film endgültig versenkt. Denn Paradis spielt nicht nur, eher notdürftig, ihre Rolle – sie inszeniert sich noch in der Gosse mit maliziösem Lächeln und korrekter Modelhaltung als neue Bardot.

Am Ende fällt der Inzest aus, weil der Vater die Tochter erkennt und Elisa den guten Kern im Säufer. So einfach ist das. Man fühlt sich betrogen; der Plot, Strohhalm unsicherer Dramaturgie, löst sich in Wohlgefallen auf. Das Tragische kippt ins Banale und verrät sich ans tout va bien. Im letzten Bild entfernt sich die Kamera freundlich von Depardieu und Paradis, innig verschlungen. Das Meer brandet, der Leuchtturm leuchtet, still strahlt das Familienglück. Ein Lügenbild.

„Elisa“ von Jean Becker. Musik: Serge Gainsbourg. Mit: Vanessa Paradis, Gérard Depardieu u.a. Frankreich 1994, 110 Min.

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