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„Système-d“ – Paris wurschtelt sich durch

Die Franzosen nehmen den Streik gelassen. Kritik kommt nur von besorgten Geschäftsleuten  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Möchte jemand zur Porte Saint-Ouen? Ich habe noch Platz“, die elegante Dame ruft aus Leibeskräften in das Stoffgeschäft im Pariser Stadtteil Belleville hinein. Ihr Wagen steht mit laufendem Motor in der zweiten Reihe auf der Straße – Strafzettel verteilt die Polizei bis zum Ende der Streiks nicht mehr. Am Vormittag hat die Dame schon einmal die französische Hauptstadt im Schrittempo durchquert. Dabei hat sie erst einen älteren Herrn mitgenommen, der zu seinem Arbeitsplatz in der Sparkasse wollte, und dann zwei Studenten, die unterwegs zu der großen Demonstration für die Universitäten waren. „Interessant“, beschreibt sie die stundenlangen Gespräche im Stau.

Seit der öffentliche Nahverkehr in Paris stillsteht, helfen sich die Franzosen mit dem altbewährten „système-d“ vorwärts. „D“ steht für „débrouille“, was soviel bedeutet, wie sich irgendwie durchzuwurschteln. Die Anhalter, die die Straßenränder säumen, gehören ebenso dazu, wie jene Eisenbahner von Creil, die ihren totalen Streik unterbrachen, um einen Zug nach Paris zu fahren. Zuvor waren sich Passagiere und Streikende bei langen Diskussionen auf den Bahngleisen nähergekommen.

An Streiktagen ist die Stimmung in Paris ausgelassen. Radfahrer genießen eine gewisse Rücksicht seitens der motorisierten Verkehrsteilnehmer. Nachbarn, die sich sonst sorgfältig aus dem Weg gehen, sprechen miteinander. Und auf den Straßen bilden sich Diskussionsgruppen. Geschimpft wird auf alle: auf die Regierung, die Gewerkschaften und die Studenten. Dabei mischt sich auch eine Portion Patriotismus in die Gespräche. „Wir Franzosen sind die vierte Industrienation der Welt – obwohl wir so viel streiken. Das müßt ihr uns erst mal nachmachen“, sagt ein Pariser stolz zu seiner Frau, die aus der dritten Industrienation (Deutschland) kommt.

Daß es bei einer derartigen Streikkultur jede Menge Bruch und bislang keine sichtbaren Erfolge gibt, bestreitet niemand. Die Herrenrunde beim Zeitungshändler, in der an diesem Mittwoch vormittag der Trainingsanzug beliebtestes Kleidungsstück ist, erinnert sich an andere Streiks in den vergangenen Jahren. Auch da gab es dieses Psychodrama, bei dem erst tagelang gestreikt werden mußte, bevor es zu Gesprächen kam. „Unsere Gewerkschaften sind eben nicht so stark wie die IG-Metall“, sagt ein Drucker in der Runde. „Der Deutsche Gewerkschaftsbund muß meistens nur mit einem Streik drohen, damit die Arbeitgeber kuschen“, sagt ein anderer. Und ergänzt schnell: „Aber wir sind hier eben in Frankreich.“

Böse Worte über die Streikenden sind selten. Selbst die beiden Krankenschwestern, die am ersten Streiktag fünf Stunden für die 20 Kilometer zur Arbeit und nach Hause gebraucht haben, zeigen Verständnis. Seit dem Mittwoch haben sie sich in einem nahe ihrem Krankenhaus im zwölften Arrondissement gelegenen Hotel einquartiert – der Zimmerwirt hat ihnen günstige Preise gemacht. Viele Pariser Hotels, die seit dem Streikbeginn kaum noch Touristen beherbergen, füllen ihre Zimmer mit Streikopfern auf.

Gestern, am achten Streiktag der Bahngesellschaft SNCF, wurden erstmals die Stimmen der Kritiker ein wenig lauter. Geschäftsleute in der Pariser Innenstadt machten sich Sorgen um das Vorweihnachtsgeschaft. Sie beklagen Einbußen bis zu 50 Prozent, und der Arbeitgeberverband warnte vor massenhafter „technischer Arbeitslosigkeit“. Aber es gibt auch Streikgewinnler – darunter die Fahrradhändler, die Rollschuhverkäufer und die Motorradboten.

„Fangt endlich an zu reden“, forderte gestern die Boulevardzeitung Le Parisien Regierung und Gewerkschaften auf. Doch die Aussichten dafür sind düster: Regierungschef Alain Juppé ist bislang zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Und die Gewerkschaften stellen sich auf eine Ausweitung der Bewegung auf den gesamten öffentlichen Dienst ein.

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