: Wie gehen wir mit den Schwachen um? -betr.: "Behinderte - ab in die Sonderschule", taz v. 24.11.95
Betr.: „Behinderte – ab in die Sonderschule“, taz v, 24.11.
Menschenrechte behinderter Personen werden in keinem Land dieser Welt geachtet; behinderte Menschen werden aufgrund von permanenten Menschenrechtsverletzungen in ihrer Entwicklung behindert und sind eklatanten Diskriminierungen ausgesetzt – so der von der UNO 1991 verabschiedete Sonderbericht über „Behinderung und Menschenrechte“. Die BRD legt großen Wert darauf, sowohl auf der internationaler als auch auf europäischer Ebene als Rechtsstaat zu gelten, dem Menschenrechte das höchste Gut sind. Wo immer in der Welt Krisen entstehen, spielen wir uns als Friedensstifter und Garant von Menschenrechten auf. (...)
Das lenkt ab, von der Misere im eigenen Land. Hier scheint es immer mehr Probleme aber keine Lösungen zu geben und Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land werden immer weniger wahrgenommen. Wir sind als Deutsche besonders stolz, eine Leistungsgesellschaft zu sein und legen allergrößten Wert darauf, eine Spitzenposition im Weltmaßstab einzunehmen. Dafr lohnt es sich, Opfer zu bringen. Auch das wird den Menschen tagtäglich eingehämmert. Aber viele Menschen fragen sich zu Recht, warum eigentlich die unerträglichen Bedingungen, unter denen immer mehr Menschen zu leiden haben, nicht geändert werden. Am Geld kann es in einem der reichsten Länder der Welt wohl nicht liegen. Wie gehen wir eigentlich mit den weniger leistungsfähigen Menschen, den Kranken, den Behinderten und den Alten um? Was geht heute in den Köpfen von Sozialdemokraten und Christdemokraten vor, die aus Kostengründen die Ausgrenzung von behinderten Kindern aus ihrem bisherigen sozialen Umfeld betreiben wollen? Heißt die moderne Lösung sozialer Fragen: es rechnet sich nicht? Kann sich Deutschland die Durchsetzung der Grundrechte für behinderte Menschen nicht mehr leisten? Müssen wir wirklich darber nachdenken, was die gleichberechtigte Existenz behinderter Menschen im Verhältnis zu deren Ertrag bedeutet? Eine demokratische Gesellschaft, die ihre Verfassung ernst nimmt, mu sich daran messen lassen, wie sie mit ihren weniger Leistungsfähigen, den Kranken, den Behinderten und den Alten umgeht.
Deutschland hat schon einmal und weltweit die volkswirtschaftlich perfekteste Antwort darauf gegeben. Sie hieß: alle Menschen, die nicht die notwendigen Leistungen zur Sicherung ihrer Existenz erbringen können, werden zur Dauerbelastung. Experten aus Wissenschaft, Justiz und den Verwaltungen wurden beauftragt, entsprechende Lösungswege zu entwickeln. Die Menschen, die als erste unter der Naziherrschaft zu Hunderten vergast wurden, waren psychisch Kranke und geistig Behinderte, die die deutsche Volksgemeinschaft ökonomisch unangemessen belasten.
Politische Entscheidungen – auch die abscheulichsten – fallen nicht vom Himmel, sondern werden von Menschen gemacht. „Faschismus ist kein Einbruch von außen in die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen, es ist der Ernstfall ihrer Normalität“, das war ein Ergebnis der Aufarbeitung unserer Vergangenheit.
Verantwortlich für das, was in Bremen in Zukunft mit leistungsschwachen Menschen geschieht, sind die in der Bremischen Bürgerschaft vertretenen Parlamentarier aller Fraktionen. In der letzten Legislaturperiode wurde der Einzug der DVU in die Bürgerschaft zurecht als Makel empfunden. Heute sitzen sie dort nicht mehr. Aber damit ist keineswegs gewährleistet, daß deren Gedankengut im Parlament keinen Platz mehr findet.
Die große Koalition hat die Chance, zu beweisen, wo sie steht. Sie hat die Macht, dem Senat zur Frage der Ausgrenzung behinderter Kinder eine klare Abfuhr zu erteilen und deutlich zu machen, daß auch diesen Kindern das Recht auf eine unbehinderte Sozialisation zusteht. Anne Albers
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