: Ein Kohl macht Europa nicht fett
■ Dem Bundeskanzler laufen die Partner davon. Kohl und Chirac wollen Mehrheit statt Einstimmigkeit in der EU
Paris/Bonn (AFP/AP/taz) – Für Bundeskanzler Helmut Kohl bleibt die europäische Einigung Hauptaufgabe der deutschen Politik – aber langsam gehen ihm die Einigungspartner aus: Frankreichs Premierminister Alain Juppé kam nicht wie vereinbart mit Präsident Jacques Chirac zum deutsch-französischen Gipfel in Baden-Baden, sondern mußte in Paris Krisensitzungen beiwohnen und Rücktrittsgerüchte zerstreuen.
Am Rande des Gipfels wurde gestern ein gemeinsamer Brief bekannt, laut dem Entscheidungen in der Europäischen Union künftig häufiger im Mehrheitsverfahren gefaßt werden sollen. Bisher müssen die meisten Beschlüsse einstimmig ergehen. Nach den Vorstellungen von Bonn und Paris soll künftig in vielen Fällen eine „qualifizierte Mehrheit“ ausreichen. Außerdem sprachen sich Kohl und Chirac dafür aus, die Stimmengewichtung der einzelnen Mitgliedsländer im EU-Ministerrat zu „überprüfen“. Das vierseitige Schreiben soll in der nächsten Woche beim EU- Gipfel in Madrid beraten werden.
Vorgestern abend hatten sich die Ministerpräsidenten von Großbritannien und Italien, John Major und Lamberto Dini, in Florenz getroffen und gesagt, sie glaubten nicht, daß die Mehrheit der EU-Mitglieder wie geplant 1999 der Europäischen Währungsunion beitreten könne. In Frankreich werteten mehrere Kommentatoren die Streikbewegung als Revolte gegen die Anpassungsbestimmungen des Maastrichter Vertrages.
Die französischen Massenstreiks gingen unvermindert weiter. Erstmals wurde der Flugverkehr erheblich behindert. Landesweit demonstrierten mehr als 300.000 Menschen. Viele kleinere Städte erlebten die größten Kundgebungen seit Mai 1968. Im lothringischen Freyming-Merlebach steckten Bergarbeiter den Bürgermeister Pierre Lang in einen Minenschacht, bis ihnen Verhandlungen mit dem Direktor des Kohlebeckens zugesagt wurden.
In Bonn rief Bundeskanzler Kohl in einer Regierungserklärung dazu auf, die Einigung Europas „unumkehrbar“ zu machen. Zu den Zielen zähle die Wirtschafts- und Währungsunion „unter strikter Wahrung der Kriterien und gemäß dem Zeitplan des Maastrichter Vertrages“. Kohl sprach sich offen für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten aus: „Sollten einzelne Partner nicht bereit oder in der Lage sein, bestimmte Integrationsschritte mit zu vollziehen, so sollte den übrigen nicht die Möglichkeit genommen werden, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens voranzugehen und eine verstärkte Zusammenarbeit zu entwickeln.“ Die Politik der europäischen Einigung sei „die größte Erfolgsgeschichte unseres Kontinents“.
Andere Redner im Bundestag waren sich da nicht so sicher. Während sich SPD- Fraktionschef Rudolf Scharping hinter den Termin 1999 für die Währungsunion stellte, waren sich CSU und Grüne in ihrer Kritik einig: Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) sprach von „weitverbreiteter Skepsis“ in Europa und konstatierte: „Leider herrscht unter den Mitgliedstaaten vielfach Unklarheit über den weiteren Weg.“ Der Bündnisgrüne Christian Sterzing meinte, die Akzeptanz des Einigungsprozesses finde immer weniger Unterstützung bei der Bevölkerung. D. J. Tagesthema Seite 3
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