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Überwintern mit Brot und Bonbons

Friedrich Gorenstein, russisch-ukrainisch-jüdischer Erzähler, lebt seit 15 Jahren in Berlin. Eben ist sein großer Roman „Der Platz“ aus dem Moskau der fünfziger Jahre erschienen  ■ Von Johannes Groschupf

Niemand kann solch ein Buch lesen. Heutzutage schon gar nicht. Eine Zumutung. Zwölfhundert Seiten lang erzählt Friedrich Gorenstein aus dem Leben eines alternden Jünglings, genannt Goscha, den es in den Wirren der fünfziger Jahre von Kiew nach Moskau verschlägt. Das klingt heutzutage nicht sehr aufregend. Vergessen wir also den Roman „Der Platz“. Zunächst.

In diesem Frühling erschien Gorensteins schmales Buch „Die Reisegefährten“. Eine ukrainische Eisenbahn-Geschichte, die sich auch in Berliner U-Bahnen lesen ließ. Wer einmal zu lesen begonnen hatte, hörte nicht mehr auf. Die Biographie des buckligen Sascha Tschubinez war dermaßen irrwitzig, daß sie kaum erfunden sein konnte.

Beiläufig wurde auch die ukrainische Geschichte miterzählt, und der Vertrieb und Verzehr von Menschenfleisch im Hungerwinter 32/33 so selbstverständlich beschrieben wie die Fünfminutenliebe zweier Menschen, die im Winter 1941 nur durch den Stacheldraht eines deutschen Deportationslagers getrennt sind.

Friedrich Gorenstein war eine bislang unbekannte Stimme. Man mochte ihn für ein junges Genie halten, das in den heutigen Wirrnissen seine Erzählungen hinwühlt. Dem ist nicht so. Friedrich Gorenstein ist ein freundlicher älterer Herr. In aller Stille hat er ein Werk geschaffen, das in der osteuropäischen Literatur – die anderen Literaturen lassen wir gern einmal beiseite – seinesgleichen sucht. Seit Anfang der neunziger Jahre erscheinen seine Bücher auch in deutscher Sprache. Leider fast unbeachtet. Doch ihm geht der Ofen nicht aus. Mit dem „Platz“ schiebt er ein Brikett nach, das uns nicht nur diesen Winter über wärmen wird.

Eine eigene Wohnung hat Gorenstein in Rußland nie gehabt. 1932 wurde er in Kiew geboren, durch die stalinistischen Säuberungen verlor er seine Eltern, er wuchs in einem Waisenhaus auf. Nach einer Zwischenstation in Dnepropetrowsk verschlug es ihn in den sechziger Jahren nach Moskau, wo eine einzige Novelle von ihm erschien.

Unter seinen zahlreichen Drehbüchern ist das zu Tarkowskis „Solaris“ am bekanntesten geworden. Gorenstein gehörte der legendären Gruppe „Metropol“ um Wassili Axjonow an, deren Literaturalmanach damals an der Zensur scheiterte. 1979 emigrierte er nach West-Berlin, wo er seither lebt.

Sein Roman „Der Platz“ entstand bereits in den siebziger Jahren in Moskau. Er ist mit jener jüdischen Weisheit erzählt, die sich bewußt ist, daß nur die Erinnerung eine Erlösung möglich macht. Also macht Gorenstein mit seinem Goscha Zwibyschew langen Prozeß.

Solche Existenzen lebten freilich nicht nur im Moskau der fünfziger, sondern auch im Berlin der achtziger Jahre. Nur hielten wir uns nicht wie Goscha mit heißem Wasser, Brot und Bonbons am Leben, sondern mit Tee, Käsetoast und Schokolade. Wer sich lieber nicht an sich selbst erinnern möchte, der lasse die Finger von diesem Roman.

Friedrich Gorensteins Galgenhumor erinnert uns an Franz Kafka, seine liebevolle Genauigkeit an Georg Hermann. Der Aufbau-Verlag, in dem die meisten seiner Werke in hervorragenden Übersetzungen von Hartmut Herboth, Renate und Thomas Reschke erschienen sind, sieht in Friedrich Gorenstein einen „neuen Dostojewski“ und handelt ihn bereits als den kommenden Nobelpreisträger.

Hoffentlich verschlägt ihm das nicht die Stimme. Nach 15 Jahren in Berlin möchte er nun auch von Deutschland erzählen. Wenn das Buch dann 3.000 Seiten hat, könnte es uns auch über die nächsten, kälteren Winter bringen.

Zuletzt von Friedrich Gorenstein erschienen:

„Psalm. Ein betrachtender Roman über die vier Strafen Gottes“, Rütten & Loening 1992

„Tschok-Tschok. Philosophisch- erotischer Roman“, Rütten & Loening 1993

„Skrjabin. Poem der Ekstase“, Aufbau-Verlag 1994

„Die Reisegefährten“, Rowohlt Berlin Verlag 1995

„Der Platz“, Aufbau-Verlag 1995

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