: Die Erfindung von Ost und West
■ Geistige Aufräumarbeit: Eine Sammlung von Aufsätzen und Reden aus den Nachkriegsjahren macht beunruhigende Parallelen zur Zeit nach 1989 augenfällig
Kaum hatte sich vor fünfzig Jahren der Rauch über den Trümmern verzogen, kaum war der Schock der Niederlage überwunden, da sprossen allerorten Zeitungen und Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden. Genauso wichtig wie die Beseitigung der Trümmer auf den Straßen, darüber waren sich die Alliierten einig, war die geistige Aufräumarbeit.
So wurden die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der fruchtbarsten Perioden in der deutschen Publizistik. Aufsätze und Reden aus der Nachkriegszeit, die in Zeitschriften wie Ost und West, in den Frankfurter Heften oder im Ruf erschienen sind, haben die Herausgeber Tilo Köhler und Rainer Nitsche in einem sorgfältig edierten und gestalteten Band versammelt.
Die durchweg prominenten Autoren – von Alfred Andersch über Peter Huchel bis zu Maximilian Scheer – hatten ganz unterschiedliche Schicksale hinter sich. Einige waren emigriert, andere kamen zurück als Besatzungsoffiziere, wie Stefan Heym, die meisten aber hatten mehr oder weniger kompromißlos in Deutschland ausgeharrt. In allen Beiträgen ist die moralische Sensibilisierung durch die Geschehnisse der gerade überwundenen Barbarei spürbar.
Die Diskussionen über versäumten Widerstand, über die Ursachen der Malaise und die Chancen des Neubeginns lesen sich mit Blick auf den Umbruch des Jahres 1989 atemberaubend aktuell. Gehört es wirklich zur unabänderlichen Mentalität der Deutschen, sich nach jeder hausgemachten Katastrophe aus der Verantwortung zu stehlen? Alexander Mitscherlisch und Stefan Heym beschreiben, wie die Überlebenden mit großem Aufwand Entschuldigungen produzieren, ohne auch nur einen Moment innezuhalten und nach dem eigenen Anteil an der Misere zu fragen: „Die Entschuldigung, man sei doch nur ein kleiner Mann gewesen, gilt heute noch“, konstatiert Stefan Heym.
Auch sonst stimmen die Berichte aus dem Nachkriegsdeutschland nicht optimistisch. Alles, was den Leuten an Alltagsproblemen zu schaffen macht, wird der neuen Obrigkeit, der Besatzungsmacht angelastet, beobachtet Hans Werner Richter in den Westzonen: „Neue Verordnungen der Militärregierung, die Kürzung der Fettrationen, der Registrierschein, die Kennkarte, das Schlangestehen, alles sind für sie Wesenszüge der Demokratie. Sie sagen: Welch eine Unverschämtheit. Das hätten die Nazis auch nicht besser gemacht. Aber nun haben wir ja die Demokratie.“
Die Diskussion über Schuld und Verstrickung der Deutschen wird schon bald durch entsprechende Direktiven der Besatzungsmächte abgebrochen. Im Westen sorgt das Wirtschaftswunder für Verdrängung, im Osten ist es die Ideologie, die aus einem Volk von Mitläufern eine Gemeinschaft von Antifaschisten macht. Wenig später ist es wieder soweit, daß die Opfer verhöhnt und die „Moralisten“ lächerlich gemacht werden.
Der damals laut geäußerte Unmut über die Entnazifizierung erinnert fatal an die heutigen Attacken gegen die Gauck-Behörde: „Wer der Ansicht ist, man könne nicht dauernd siebzig Prozent des Volkes in Opposition halten, der sollte sich fragen, ob es ihm politisch richtiger erscheint, die aufrichtigen Demokraten zur dauernden Opposition zu machen“, schreibt Erik Reger, Mitherausgeber des Tagesspiegels, im September 1947.
Währenddessen driften die politisch getrennten Teile Deutschlands immer weiter auseinander. Janet Flanner, die bekannte Kriegsberichterstatterin des New Yorker, fragt im Juli 1947 angesichts der wachsenden Entfremdung: „Wird es zwei Deutschland geben – ein russisches mit Berlin und ein westliches mit Frankfurt als Hauptstadt?“
Mehr und mehr werden die Diskussionen über die gemeinsame unheilvolle Vergangenheit und die Richtung, in welche die Zukunft gehen soll, vom Kalten Krieg überschattet. „Hüben und drüben wurden Autoren und Zeitschriften auf Kurs gebracht, Literatur und vor allem Publizistik begannen sich in Blöcken zu sortieren“, schreiben die Herausgeber im Vorwort. Es gab freilich graduelle Unterschiede in Ost und West, über die der Begriff „Kalter Krieg“ oft allzu glatt hinwegschauen läßt. Während im Osten die Bevölkerung zur Geisel einer politischen Überzeugung gemacht wurde, die bei Widerrede mit Lagerhaft, Deportation und im Einzelfall auch mit Erschießung zu rechnen hatte, gab es im Westen zu jeder Zeit ein Minimum an Grundrechten. Die Gefängnisse des russischen Geheimdienstes, in die Sozialdemokraten und andere politisch Mißliebige verschleppt wurden, sie sind keine Erfindung der Kalten-Kriegs-Propaganda.
Schon damals lag alles offen zutage, was die DDR bis in ihr Siechtum begleiten sollte: der Mangel an Toleranz, die Inkompetenz der Funktionäre, die Wirklichkeitsferne der Ideologie. Daß der Westen damals in mancher Hinsicht keine appetitliche Alternative bot – man denke nur an die Nazibonzen, die unbeschadet in Amt und Würden blieben –, hat die Lebensdauer des östlichen Staates nur unnötig verlängert.
Mit Gründung der beiden Staaten bricht die Aufsatzsammlung jedoch ab. Die Zeit nach der „Erfindung von Ost und West“ ist ein anderes Kapitel deutscher Publizistik. Peter Walther
„Stunde 1 oder die Erfindung von Ost und West. Reportagen und Visionen aus den Nachkriegsjahren“. Hg. von Tilo Köhler und Rainer Nitsche, Transit Verlag, Berlin 1995, 28 DM
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