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Ein Schlächter als Happening-Künstler

taz-Serie „Europa im Krieg“: Auch eine Art Orgien- und Mysterientheater – wie General Mladić das Massaker von Srebrenica mit einer Schlachtung als Happening ankündigte, und wie der Westen beim Zuschauen sein Gesicht verlor  ■ Von István Eörsi

Viele meiner verehrten Leser mögen erschüttert gewesen sein, als sie vor ihrem Hausaltar sitzend den schmächtigen, stoppeligen kleinen Bauern mittleren Alters zu Gesicht bekamen. Er tauchte nach neun Uhr abends auf dem Bildschirm auf. Ihn umflutete das Nachmittagslicht der strahlenden Sonne, er stand an einem grünen Berghang, gerahmt von dichten Wäldern, im Hintergrund eine dunkle Kette von Berggipfeln. Die zauberhaft herausgeputzte Landschaft harmonierte nicht mit seiner zerlumpten Hose, um nur diese Komponente seiner in jeder Hinsicht fragwürdigen Eleganz zu erwähnen. Urplötzlich hob er die Hände vor den Mund und rief, die Vokale unendlich in die Länge ziehend, in die feierliche Stille: „Kommt hervor! Keine Gefahr!“ Mit zitternden Beinen und hervorquellenden Augen wiederholte er seinen Lockruf. Am Waldrand, wie den Schwächeren zuliebe auch der Kommentar erwähnte, lagen Jäger in Anstand. Verrückterweise hoffte ich, er hätte die Worte vielleicht so gedehnt, damit sie als warnendes Wehklagen wirkten, aber das nackte Entsetzen in seinem Gesicht verriet, daß diese optimistische Erwartung ohne Grundlage war. Auch er wollte, wie wir Fernsehzuschauer alle, die neunte Abendstunde erleben, und eine gewisse minimale Chance dazu hatte er wohl nur, wenn er mit seiner Stimme das versteckte Wild hervorlockte.

Als Stückeschreiber habe ich viel aus diesem Bild gelernt. Jede historische Situation schöpft ihre Qualität daraus, was für Konflikte in ihr vorstellbar sind. Der – nicht nur vorstellbare, sondern augenfällige – Konflikt des betreffenden Bauern ist so abstoßend unterweltlich, daß ich mich schämen mußte, sein Zeitgenosse zu sein. Wer ist schuld daran, fragte ich mich, daß er in so eine Situation geraten ist? Wie einfach wäre es, sich mit dieser Antwort zu begnügen. Karadžić und Mladić. Oder allgemeiner: der Nationalismus, den nach Titos Tod die serbische Intelligenz nicht geschützt hat und den Milošević ausnutzt. Eventuell der Nationalismus der politischen Führer, der Intellektuellen und Völker Ex-Jugoslawiens. Das alles sind relativ angenehme Antworten, vor einigen Jahren oder Monaten hätten wir sie noch mit einiger kritischer Anspruchslosigkeit akzeptieren können. Seit dem Juli aber können zu solchen Erklärungen nur noch Lumpen und/oder Dummköpfe nicken.

Die idyllische Landschaft liegt nämlich in der Nähe von Srebrenica. Die Kamera hielt eine Szene aus dem Juli fest. Am 11. Juli besetzten die Streitkräfte der bosnischen Serben die unter UNO- Schutz stehende Enklave Srebrenica. Die niederländischen Blauhelme leisteten keinen Widerstand, trotzdem würde ich nicht sagen, daß sie völlig umsonst dort waren. Die Serben nämlich nahmen ihnen, nicht selten mit Gewalt, die Uniformen weg und lockten als UNO-Soldaten verkleidet die Bevölkerung aus ihren Verstecken. Die Männer wurden ausgesondert und weggetrieben, die meisten von ihnen – die geschätzte Zahl schwankt zwischen 3.000 und 6.000 – innerhalb von zwei Tagen niedergemetzelt. Die Amerikaner – die ähnlich wie die Franzosen und die Deutschen aus abgehörten Telefongesprächen über den bevorstehenden Angriff auf die Schutzzone gewußt, ihr Wissen aber diskret für sich behalten hatten – fertigten von den zusammengetriebenen Muslimen, und am Tag darauf an gleicher Stelle von den Massengräbern, Luftaufnahmen an. Diese Tatsachen sind bekannt. Bekannt ist auch, daß die Niederländer die Schuld an dem Geschehenen der UNO zuschieben. Janvier, der französische Oberkommandierende, weigerte sich ein paarmal, der Schutzzone mit Luftstreitkräften zu Hilfe zu kommen. Bei einer Gelegenheit äußerte er gereizt, die Niederländer verständen nicht, daß die UNO endlich ihre Schutzzone loswerden wolle. Nach manchen Quellen stammt die Anweisung zur Gebietsaufgabe von Präsident Chirac. Es kam sogar der schwerwiegende und häßliche Verdacht auf, die bosnische Regierung habe der Überrollung von Srebrenica gleichfalls zugestimmt, damit sie darauf nicht am Verhandlungstisch verzichten müsse.

Der schmächtige Bauer verdankt also seinen entwürdigenden, tödlichen Konflikt über die unmittelbaren Mörder hinaus der UNO, der Europäischen Gemeinschaft und hauptsächlich den um die Menschenrechte am stärksten besorgten Großmächten. Auch die Ermordeten sowie ihre Witwen und Waisen können diese Kräfte in ihre Dankgebete einschließen. Eine internationale Weltordnung, die zu nichts anderem fähig ist, als dem Aggressor Geiseln zur Verfügung zu stellen und den Schlächtern ihr Tun durch das Predigen von Gewaltfreiheit zu erleichtern – eine solche Weltordnung verdient kein besseres Ende als der Völkerbund unseligen Angedenkens.

Das Wort „Schlächter“ leitet über zu einer anderen bühnenreifen Szene, über die Thomas Kleine-Brockhoff und Michael Schwelien in der Zeit vom 3. November berichteten. Am 11. Juli, also an dem Tag, als die bosnischen Serben Srebrenica besetzten, lud der Oberkommandierende Ratko Mladić niederländische Offiziere in ein Hotel der Umgebung ein. In einem Hotelzimmer war an den Beinen ein lebendiges Schwein aufgehängt. Ein Soldat trat vor und schnitt dem Tier mit seinem Messer die Kehle durch. Während das Blut auf den Fußboden floß, teilte Mladić seinen Gästen mit, so werde er mit allen umspringen, die in der unter niederländischer Aufsicht stehenden Schutzzone niederländischen Schutz suchen. (Ein schönes Foto über dem Bericht zeigt Mladić am Tag nach dem Tod des Borstenviehs beim Sekttrinken mit Tom Karremans, dem Chef der niederländischen Blauhelme.)

Dieses Bühnenzeremoniell verdeutlicht nicht nur, daß die niederländischen und sonstigen UNO- Beauftragten – was auch immer sie zusammenlügen – genau wußten, was der den Serben ausgelieferten Zivilbevölkerung bevorstand. Das Happening mit dem Titel „Der Tod eines Schweins“ in der Regie von Mladić, der auch die Hauptrolle übernahm, gibt darüber hinaus Kunde von vorzivilisatorischen Emotionen. Mit Recht bezeichnet Bogdan Bogdanović den Balkankrieg als archaisch – ich setze hinzu: Archaisch sind nicht nur seine Ziele, sondern auch seine Riten. Öffentliche Blutopfer, wo der Tod eines Tieres das menschliche Schicksal symbolisiert, damit der Anblick erträglich ist. Mladić ist sogar als taktvoll zu bezeichnen, denn statt des Schweins hätte mit zusammengebundenen Gliedmaßen auch der Held des ersterwähnten Schauspiels, der schmächtige kleine Bauer, dort hängen können. Der kleine Bauer war Clown in einem raffiniert ausgetüftelten Spiel, das Schwein zentrale Figur einer archaischen Zeremonie. Derlei ist in diesem Krieg nicht selten. Gefangene mußten wiederholt abgeschnittene Körperteile anderer Gefangener auffressen. Kleinkinder wurden lebend gebraten. Im zuvor erwähnten Zeitungsartikel reißt ein serbischer Soldat einer Frau ihr Kind aus den Armen, schneidet ihm die Kehle durch und zwingt die Mutter, vom herausspritzenden Blut zu trinken. Die durch Kannibalismus verschärfte Menschenopferung wird noch unerträglicher bei dem Gedanken, daß die Opferpriester Angehörige einer mit modernen Waffen ausgerüsteten Armee sind. Ungefähr vor anderthalb Jahrzehnten las ich, daß man im Kühlschrank des zentralafrikanischen Kaisers Bokassa Menschenfleisch gefunden hatte – während ich über den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kühlschränken und Menschenfleischverzehr nachsann, dachte ich zum erstenmal an die Möglichkeit, daß unsere moderne Welt hinabstürzen kann in die Schlucht, die zwischen unserem undomestizierten Triebleben und unserer hypertechnisierten Zivilisation klafft.

Wo ungehemmt und hemmungslos solche Emotionen wirken und wo, feige oder zynisch, die Weltorganisationen und Großmächte versagen, dort muß sich das kritische Denken von seinen Schemata und Dogmen lösen. Heute ist klar erkennbar, was für ein Spiel getrieben wurde. Die Weltmächte haben entschieden, daß der Genozid auf dem Balkan nicht ihre unmittelbaren Interessen berührt. Alle Welt konnte sehen, daß das Leben eines einzigen geretteten amerikanischen Piloten wertvoller ist und mehr Schlagzeilen auf den ersten Seiten der Weltpresse produziert als die abgeschlachteten, vergewaltigten, vertriebenen balkanischen Menschenmassen. Da sie nichts riskieren wollten, sich aber auch nicht völlig tatenlos zeigen konnten, schickten sie zur Aufrechterhaltung des Friedens Kräfte dorthin, wo nur noch der Krieg aufrechterhalten werden konnte, und sie erklärten Gebiete zu Schutzzonen, die sie nicht schützten. Sie nahmen es hin, daß ehrwürdige Städte über Jahre von Wasser, Licht und Nahrung abgeschnitten und ihre Bewohner aus dem Hinterhalt wie Hasen beschossen wurden. Lange meinte ich, die zuständigen Strategen seien einfach dumm und die mit der Vermittlung beauftragten Politiker, von Lord Carrington bis zum Erdnußboß Jimmy Carter, regelrecht imbezil. Dann gingen die Amerikaner, bereits nach Srebrenica, zu ernsthafteren Bombenangriffen über, so daß es mit der militärischen Überlegenheit der Serben im Handumdrehen vorbei war und sie soviel Territorium verloren, daß mit höchster Teilnahme Friedensverhandlungen beginnen konnten. Warum diese Einsätze nicht schon drei Jahre vorher? Wieviel Sterben und Leiden hätte da verhindert werden können! Denn vom ersten Augenblick an war klar, worum es im Bosnienkrieg geht. Mir kam der beunruhigende Verdacht, daß sie die Scheußlichkeiten nicht allein aus Dusseligkeit duldeten. Maßgebliche Experten meinten vermutlich, das friedliche Zusammenleben der multikulturellen Staaten könne ohnehin nicht von Dauer sein, deshalb sei es am einfachsten, wenn sie Zuschauer blieben bei dem Prozeß, in dem die hier lebenden Völker mit Blut und Eisen, koste es, was es wolle, ethnisch einheitliche oder zumindest durch eine Mischbevölkerung in der Lebensfähigkeit nicht bedrohte Nationalstaaten schaffen.

Ich finde es haarsträubend, daß diese auf Ausblutung basierende Strategie linke Unterstützung genießt. Was würden wir von einem Ringrichter halten, der den Boxkampf zwischen einem Schwergewichtler und einem Fliegengewichtler mit sportlicher Unparteilichkeit leitet? Wenigstens einmal nachdenken über das Schicksal der in Srebrenica Getöteten sollten diejenigen, die im Namen schöner Ideale und seelenerwärmender Traditionen dagegen waren, daß UNO- oder amerikanische Luftstreitkräfte die serbischen Flugplätze, Aufmarschlinien, Abschußbasen, militärischen Vorratslager und Kriegsstellungen zerbombten. Verwundert lese ich auch noch nach Srebrenica, daß grüne Politiker Joschka Fischer attackieren, weil er endlich geschrieben hat, daß das schöne Prinzip der Gewaltfreiheit in Bosnien den Gegnern des menschlichen Lebens und der Freiheit hilft. Fischers „linke“ Kritiker fürchten, mit der Aufgabe des Prinzips der Gewaltlosigkeit werde die Partei der Grünen ihr Gesicht verlieren. Aber wir können unser Gesicht – das eigene, das einer Person ebenso wie das einer Bewegung – nur bewahren, wenn es nicht dieses Gesicht ist, was uns interessiert, sondern die Veränderungen in der Welt. Wenn sie darin keine Spuren hinterlassen, dann ist unser bewahrtes Gesicht kein Gesicht, sondern nur eine Maske.

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Diese Reihe wurde am 22. 11. mit einem Beitrag von Bogdan Bogdanović eröffnet.

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