Berlin Kleistpark

Sucht mit allen Mitteln Anschluß an Döblin und Joyce: Ulrich Peltzers verspäteter Generationenroman „Stefan Martinez“  ■ Von Harry Nutt

Er sei ja nicht schwarzgefahren, läßt Stefan Martinez seine Freundin wissen, im Prinzip habe er nur vergessen, eine Karte zu lösen. Die kostspielige Begegnung mit dem Kontrollpersonal der Berliner Verkehrsbetriebe gehört zu den wenigen erzählten Handlungen in Ulrich Peltzers Roman „Stefan Martinez“.

Der weit größere Teil des 572 Seiten langen Textes entspringt dem Bewußtseinsstrom eines mehrfach die Perspektive wechselnden Erzählers. Per Münzwurf entscheidet Stefan Martinez über seine Wege in der Stadt, Bus oder U-Bahn, alles könnte auch eine ganz andere Richtung bekommen.

Stefan Martinez ist ein typisches Exemplar seiner Altersgruppe, geboren in den späten fünfziger Jahren. Um sich der Einberufung zur Bundeswehr zu entziehen, hat es ihn und seine Freunde in die „Szene-Hauptstadt“ Berlin verschlagen, wo es Mitte der achtziger Jahre zwar viele Bewegungen, für seinesgleichen aber eher eine Art beschleunigten Stillstands gibt. Man läßt sich treiben.

Martinez, Sohn eines spanischen Gastarbeiters, der seinen Vater nie kennengelernt hat, jobbt halbtags in einem Architektenbüro und streift nachts mit seinen Freunden durch die Kneipen und Bars der Stadt. Sie hören Konzerte der B52s und der Cramps im Metropol, berauschen sich an Joints und Ouzo und wickeln kleinere kriminelle Deals im benachbarten Ausland ab. Am Ende bleibt kaum mehr als ein unbefriedigender Hauch von Abenteuer. Die Generation, die nach der 68er Revolte kam, ist eloquent und mit allerlei Fähigkeiten begabt, aber verweigert sich in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Trotz jeder Form von Lebensplanung.

Nun also der verspätete Roman über die Kohorte, die während ihres Älterwerdens die Nutzlosigkeit verspürte, erwachsen zu werden? Man tut Ulrich Peltzer unrecht, versuchte man, seinen voluminösen Roman auf eine essayistische Formel zu reduzieren. Die Wahl seiner Mittel ist ambitioniert. Stakkatohaftes Erzählen, abrupte Perspektiv- und Sprecherwechsel wollen an die berühmten Vorbilder des modernen Großstadtromans erinnern. Franz Biberkopf vor einem CAD-Computer im Architektenbüro, lustlos.

Klassischer Bildungsvorrat, Poptexte, Dialekt und Slang, mathematische Formeln und Wortfetzen aus der Werbung fließen so bedeutungsstrotzend in den Textkorpus ein, als ginge es darum, die Quiztauglichkeit des Lesers zu testen. Entsymbolisierung der Textsorten nennt das der Germanist mit ehrfürchtigem Blick auf Döblin und Joyce. Peltzers Sprache ist dabei nicht ohne Reiz. Wo Martinez' Geschichte tiefer ausgelotet wird, Kindheits- und Jugendepisoden mit längerem Atem erzählt werden oder wenn die Liebesbeziehung der Mutter zu seinem spanischen Vater Miguel Martinez aufscheint, gewinnt der Roman an narrativer Gestalt.

Solche Passagen freilich werden rasch wieder einer stilistischen Experimentierwut geopfert. In dichter Schnittfolge wird Abwechslungsreichtum und Vielheit suggeriert, ohne daß die Titelfigur dem Konstruktionsplan des Autors entkommen könnte. Sind die bekannten Großstadtromane immer auch Darstellungen eines dröhnenden, nervösen urbanen Getriebes, so ist Peltzers Stadtwahrnehmung auffällig kühl. Wenn hier etwas Fiebriges zum Vorschein kommt, dann ist es der Präzisionswahn des Mathematikers Martinez, der ein Phantasma des gelebten Augenblicks verfolgt. „Nur das Lieben, nur das Kennen zählt, und nicht: geliebt, gekannt zu haben.“ Seiner Freundin Evelin schreibt er: „Unterwegs zu sein, tut mir gut. (...) Getrockneter weißlicher Schaumwein klebt an den Innenwänden des Glases, erstarrt, flüssig verfestigt. Noch 1, 2, 3 wohldosierte Züge. Die Karte ist zuende, Buchstaben auf ihrer liniert geteilten Rückseite, der Textteil, Worte, Sätze. Ich umarme und küsse Dich.“ Am Ende ergibt sich für den unter Niveau vor sich hin lebenden Martinez doch noch eine Perspektive. Man hat seine Talente erkannt, und es besteht Aussicht auf Festanstellung. „Ich habe Lust, alles zu erzählen. Dann fange ich an.“

Der Roman, ein Rechenschaftsbericht über die juvenile westdeutsche Befindlichkeit Mitte der achtziger Jahre? Fast scheint es so, als sei Ulrich Peltzer, der 1987 mit dem Berlin-Krimi „Die Sünden der Faulheit“ recht erfolgreich debütiert hatte, während der Arbeit an seinem umfangreichen Roman der Mauerfall in die Quere gekommen. In einer Zeit, wo die literarische Gemeinde mit verbissenem Ernst auf den Zeitroman zur deutschen Einheit wartet, wird es das sperrige Opus Peltzers schwer haben. Die 78er sind schon wieder zu spät gekommen.

Ulrich Peltzer: „Stefan Martinez“. Ammann-Verlag, 572 Seiten,

48 DM