piwik no script img

Blinde Passagiere aus Befehlsnotstand ermordet

■ Ukrainische Seeleute massakrierten auf hoher See vor Portugal acht Afrikaner. Jetzt wurden die Mörder in Frankreich verurteilt. Ist das Verbrechen ein Einzelfall?

Paris (taz) – Drei Jahre nach dem Verbrechen auf der „MC Ruby“ wurden in der Nacht zu Sonntag der Kapitän und der zweite Mann des Containerschiffs zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein Schwurgericht in Rouen befand sie für schuldig, die Ermordung von acht blinden Passagieren befohlen zu haben. Drei weitere ukrainische Seeleute erhielten Gefängnisstrafen von 20 Jahren für die Ausführung der Befehle. Der sechste Angeklagte, ein abchasischer Matrose, dessen Tatbeteiligung nicht bewiesen werden konnte, wurde freigesprochen. Die Zeugenaussage des einzigen Überlebenden des Massakers an Bord der „MC Ruby“ hatte den Prozeß in der nordfranzösischen Stadt möglich gemacht. Der Ghanaer Kingsley Ofusu hatte sich zusammen mit seinem Halbbruder und fünf anderen jungen Männern im Oktober 1992 in der Hafenstadt Takoradi auf dem Schiff versteckt, um nach Europa zu kommen. An Bord traf die Gruppe auf einen weiteren blinden Passagier aus Kamerun, von dem bis heute nur bekannt ist, daß er Anduse hieß und nach Deutschland wollte. Auf hoher See entdeckte die ukrainische Crew ihre blinden Passagiere, beraubte sie ihrer Ersparnisse und sperrte sie ein. Wenige Tage später ermordeten die Seeleute acht blinde Passagiere auf hoher See vor der Küste Portugals. Einer nach dem anderen mußte an Deck kommen. Die Matrosen schlugen mit einer Eisenstange und einem Hammer auf sie ein, erschossen sie und versenkten die Leichen anschließend im Meer.

Ofusu war der letzte Todeskandidat. In der Nacht zum 3. November 1992 sah und hörte er, wie sein Halbbruder ermordet wurde. Er rannte weg und versteckte sich vor den Seeleuten zwischen Säcken mit Kakaobohnen. In der französischen Hafenstadt Le Havre gelang Ofusu wenige Tage später die Flucht von Bord.

Im Laufe des vierwöchigen Prozesses vor einem Schwurgericht hatten die jetzt zu 20 Jahren Gefängnis verurteilten drei Matrosen das Verbrechen gestanden. Der Schiffskoch Oleg Mikaihlevskiy, der erbrechen mußte, während er seine Opfer mit dem Hammer traktierte, machte geltend, er habe auf Befehl gehandelt. Mit Befehlsnotstand argumentierten auch seine beiden schießenden und schlagenden Kollegen.

Der 60jährige Kapitän Vladimier Ilnitskiy bestritt bis zum Schluß des Verfahrens, Komplize der Morde gewesen zu sein. Er will erst am Morgen danach von ihnen erfahren haben. Warum er weder die Behörden seines Landes noch die in Le Havre über das Verbrechen informierte, konnte er den Geschworenen nicht erklären. Sein zweiter Mann, der 34jährige Valery Artemenko, war von den angeklagten Matrosen übereinstimmend als Auftraggeber des Mordes genannt worden. Er selbst gab nur eine Beteiligung an dem Verbrechen zu.

Als tieferen Grund für die Morde gaben die Seeleute Angst vor der Schiffsgesellschaft an. Blinde Passagiere an Bord seien unerwünscht, weil sie bei der Ankunft Probleme verursachten. Die Schiffe riskierten lange und teure Liegezeiten, und die europäischen Behörden verlangten den Rücktransport der illegalen Einwanderer. Auf die Frage, ob derartige Verbrechen häufiger vorkommen, gab der Prozeß keine Antwort.

Der Staatsanwalt machte deutlich, daß das Urteil von Rouen auch eine Warnung an andere potentielle Mörder auf hoher See sein soll. In seinem Plädoyer forderte er die Geschworenen auf, „allen Kapitänen und allen Besatzungen zu sagen, daß die Justiz auch auf den Meeren gilt“. Dorothea Hahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen