: Ab durch die Mitte
Evchen muß raus, Sylvia will rein. Die BewohnerInnen von Berlin-Mitte finden ihre Mitte nicht wieder. Der Osten flüchtet vor dem Westen – und hinterläßt im Kanzlerbezirk eine PDS-Bürgermeisterkandidatin ■ Von Thorsten Schmitz
Der Pilot
Die Stadt liegt unter einem Nebelteppich begraben, über ihm sind es minus 53 Grad. Keine Häuser sind vom Flugzeugsessel aus zu erkennen, keine Straßen, keine Seen und schon gar keine Menschen – nur azurblauer Himmel. Berlin hat sich versteckt. Fast vollständig.
Denn in weiter Ferne, eigentlich ganz nah, ragt eine Spitze in den Wattebausch über Berlin – der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz. Er allein schafft es, die Nebeldecke zu durchstoßen. Die Kugel des Fernsehturms: ein rot und weiß blinkendes, auf Wolken gebettetes Ufo. Der Anblick ist dem Piloten eine Ehrenrunde wert – und eine Bemerkung, erst auf deutsch, dann auf englisch: „Links sehen Sie Berlins höchstes Gebäude, den Fernsehturm. Er ist das Herz der Stadt, und wenn Sie Zeit haben, fahren Sie rauf zur Aussichtsplattform. Sie kriegen dort Kaffee und Kuchen.“
Von allen deutschen Städten, die der Pilot anfliegt, ist ihm Berlin die liebste. Er lebt in Frankfurt und fühlt doch tatsächlich „so etwas wie Nachhausekommen“, wenn er vom Cockpit aus das Brandenburger Tor und den Fernsehturm erblickt. Seine Pausen zwischen zwei Flügen verbringt er, sooft es geht, in der Cafeteria des Fernsehturms. Das ist, sagt der Pilot und lacht, „sozusagen die Fortsetzung eines Fluges“.
Berlins Mitte von oben, aus 207 Meter sicherer Distanz, das findet der Pilot „Spitze“ – aber hier leben? Nein, schüttelt er den Kopf, dafür klopft ihm Berlins Herz zu schnell: „Zuviel Chaos, zu viele Baustellen, zuwenig Bäume.“
Die PDS
Wahrscheinlich wird Kanzler Kohl am kommenden Donnerstag abend schlechte Laune kriegen. Denn am 14. Dezember wählen die Bezirksverordneten von Mitte einen neuen Bürgermeister – beziehungsweise eine neue Bürgermeisterin: Sylvia Jastrzembski, 45.
Bei der Berlin-Wahl im Oktober heimste die PDS-Fraktion des Stadtparlaments im künftigen Regierungsviertel 42,6 Prozent ein. 16.733 Kreuzchen für die SED- Nachfolgepartei. Zu den bekannten PDS-Hochburgen in den Plattenbausiedlungen Hellersdorf, Marzahn und Hohenschönhausen ist nun eine weitere dazugekommen – ausgerechnet die, in die Bundesregierung, Parlament und der Kanzler ziehen.
Der große Erfolg von Sylvia Jastrzembski ließe sich ganz einfach damit erklären, daß im Stadtbezirk Mitte, dem einstigen Machtzentrum der DDR, viele ehemalige Funktionäre wohnen, die nun arbeitslos sind und aus Protest die PDS wählen. Das stimmt nur teilweise. Vielleicht hat auch eine gewisse Heimatverbundenheit den Ausschlag zum Kreuz für die PDS gegeben: Denn die Mitte-Bewohner finden ihre Mitte nicht wieder.
Nach fünf Jahren deutscher Einheit wissen selbst die Anwohner nicht mehr so ganz genau, wo die Mauer stand. Der Aufschwung Ost zeigt sich in 1.400 Baustellen, kein anderer Bezirk wird solch einem radikalen Facelifting unterzogen.
Mit dem Reiseführer in der Hand pilgern die Touristen durch die historische und jetzige Mitte – auf der Suche nach dem unverfälschten Osten. Doch der wird gerade abgeschafft. In Kohlenkellern und Obstgeschäften haben sich Szenebars und Discos festgesetzt, aus der Post wurde ein Fitneßcenter, aus dem Schuster eine Boutique, aus dem Kindergarten ein Spielsalon. Der Stadtbezirk wurde zum Sanierungsgebiet auserkoren, und nun putzt man das Viertel fein heraus – auf daß es nicht mehr wiederzuerkennen und für Staatsgäste proper sei.
Sylvia Jastrzembski, noch Vorsitzende der PDS-Fraktion Mitte, freut sich schon mal vorsorglich auf ihren Bürgermeisterposten: „Mitte wird ja so was wie der Kanzlerbezirk, da macht sich eine PDS-Bürgermeisterin doch besonders gut.“
Die Angst geht um vor der roten Frau. Sie selbst gibt sich wie eine Art Jeanne d'Arc von Mitte, die nicht Frankreich von den Engländern befreit, sondern den Osten vom Westjoch: „Wir als PDS Mitte können schonungslos den Mund aufmachen, weil wir keine Rücksicht nehmen müssen auf irgendwelche Konstellationen.“ Der Beweis dafür seien die letzten drei Jahre in der Bezirksverordnetenversammlung: „Wir konnten den Bezirksbürgermeister drei Jahre lang voll unter linken Druck setzen.“
Die ortsansässige PDS und ihre drei Stadträte haben Kindertagesstätten und Jugendclubs erhalten und Seniorenheime umgebaut – so was merken sich die Nachbarn. „Die PDS hat sich in der täglichen Praxis Respekt verschafft als eine Partei, die den Bürgern hilft, den Alltag zu bestehen.“ In diesem Ton redete Sylvia Jastrzembski auch vor 89 – als Mitglied der SED.
Ihr Amtsvorgänger, Gerhard Keil von der SPD, hat schon mal vorsorglich die Parole ausgegeben: „Die Ressentiments müssen zurückgestellt werden, damit wir eine PDS-Bürgermeisterin verhindern.“ Rein rechnerisch wäre das möglich. SPD, CDU und Bündnisgrüne verfügen zusammen über 25 Sitze in der Bezirksversammlung, fünf mehr, als die PDS-Fraktion besitzt. Doch Sylvia Jastrzembski kann sich nicht vorstellen, daß der Wunsch, sie zu verhindern, als einigendes Band einer Dreierkoalition ausreicht, die dann Gerhard Keil wiederwählt.
Besonders die Bündnisgrünen, das Zünglein an der Waage, hegen Vorbehalte gegen Keil: Vor ein paar Monaten hatte er die grüne Baustadträtin Dorothee Dubrau entmachtet – in trauter Zusammenarbeit mit der PDS. Dem SPD-Mann und seinen Freunden von der PDS war die Grüne zu investorenfeindlich. Dubrau setzte sich dafür ein, daß auch in Mitte Kindergärten, Schwimmbäder und Mietshäuser zwischen den Bürogebäuden existieren können.
Sylvia Jastrzembski weiß sehr wohl, daß die Macht einer Bürgermeisterin in Mitte nicht sehr weit reicht. Mit dem Hauptstadtvertrag sind die Kompetenzen des Bezirks eingeschränkt worden. Aber ein „gläsernes Rathaus“ verspricht die PDS-Funktionärin, die an der Lomonossow-Universität in Moskau Philosophie studiert hat, „wo der Bürger die Entscheidung nachvollziehen kann“.
Für die Journalisten der Hauptstadt-Zeitungen wäre eine PDS- Bürgermeisterin sowieso eine willkommene Abwechslung von der unendlichen Langsamkeit der Großen Koalition. Künftig müßte der Bundeskanzler dann ja jedesmal, wenn er Berlin besucht, bei Jastrzembski um Asyl bitten, feixten sie nach der Wahl auf einer Pressekonferenz der PDS.
Der Seifenladen
Von Evchen erzählen sich sogar die Schornsteinfeger von Mitte. Fast ein halbes Jahrhundert lang führte Eva Hellingrath „Evchens Seifenladen“ in der Tucholskystraße 47. 45 Jahre wünschte sie „einen wunderschönen Tag“ und fragte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Eines Tages aber, zwei Jahre nach dem Mauerfall, meldete sich der 75 Jahre alte Sohn des früheren Eigentümers – und machte seine Ansprüche geltend. Evchen war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr älter als er, und sie tat dem Sohn ein bißchen leid. So ließ der Mann aus Mannheim eine Schamfrist verstreichen, obwohl Evchen ja nie auf die Idee gekommen wäre, noch mal von vorne anzufangen und einen neuen Laden zu eröffnen.
Als die Frist verstrichen war, fand der Sohn im Handumdrehen einen Käufer – und Evchen Hellingrath mußte raus. Das Viertel, in dem die Anwohner früher nach Feierabend auf den Straßen Federball spielten und in dem heute die Autos im Stoßstangenabstand fahren und die Menschen an der McDonald's-Theke Schlange stehen, ist nicht mehr ihres. Sie ist weggezogen, noch nicht mal die Schornsteinfeger haben herausgefunden, wohin.
Überall neue Nachbarn und neue Geschäfte mit neuen Besitzern – und irgendwann zwischen Tag und Nacht findet ein fast vollständiger Austausch des Publikums statt. Die Mitte gehört dem Westen, sogar japanische Reiseführer empfehlen eine Stippvisite im Kunst- und Kulturhaus „Tacheles“ an der Oranienburger Straße – und die trendigste Techno-Disco Deutschlands, das E-Werk, wird in ein paar Jahren in einen Gebäudekomplex mit Plattenläden, Boutiquen und Pizza-Hut integriert. Der Osten in Mitte flüchtet vor dem Westen ins Reservat Prenzlauer Berg.
„Gewinnsucht ist heilbar“, hat jemand an eine Kneipenwand in Mitte gepinselt – und liefert, auf einer Hauswand gleich daneben, das Rezept: „Rheinländer raus!“
Der Künstler
Jim Avignon friert. Der Kohleofen ist über Nacht ausgegangen, klamme Kälte umgibt ihn in dem Geschäft direkt neben der Jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße. Der populäre Pop- art-Maler aus München mit Hauptwohnsitz Berlin hat sich erklären lassen, wie man einen Kohleofen bedient. Er studiert die Notizen in seinem Filofax – und schüttelt dabei den Kopf: „Das hätte ich auch nicht gedacht, daß ich noch mal mit Kohle heizen muß.“ Der Künstler ist 29 und wohnt etwa zwanzig S-Bahn-Minuten entfernt im Westberliner Bezirk Steglitz. Für drei Wochen verkauft er in der Oranienburger Straße Kunst von Freunden; der Raum ist drapiert mit Fähnchen, Grafiken und Skulpturen. Nichts kostet mehr als 300 Mark, 80 Prozent erhalten die Künstler, 20 Prozent eine Obdachloseninitiative. Die 1.000 Mark Miete bezahlt Jim Avignon aus eigener Tasche: „Mal sehen, ob die Idee funktioniert.“ Die Idee ist simpel: Seine Künstler- Freunde sollen Geld verdienen – und die Obdachlosen was zu essen kriegen.
Ein seltsamer Künstler: Der 29jährige aus dem Westen richtet sich ein im Osten – und will nicht reich werden mit dem, was er tut. Und weil so was so schön in die Weihnachtszeit paßt, kommt jeden Tag ein anderer Fernsehsender und löchert den Kurzzeit-Galeristen nach seinen Motiven.
Es ist kein Zufall, daß Jim Avignon sich ausgerechnet in Mitte eingenistet hat. Hier kommen die meisten Leute vorbei, und „es ist der spannendste Ort in Berlin“.
Die meiste Zeit verbringt der Maler in Mitte, hierherziehen möchte er aber nicht. „In Steglitz“, sagt er und grinst, „habe ich eine Zentralheizung.“
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