: Geheime Brief-Wahl
■ Wem nützt der neue Briefbombenanschlag?
Diesmal erwischte es glücklicherweise nur einen Briefkasten. Wären da nicht die Schwerverletzten und Toten der vorangegangenen Bombenwellen, man wäre versucht, in Spott zu verfallen. Doch eine mysteriöse rechtsextreme „Bajuwarische Befreiungsarmee“ hatte bislang in vier Etappen seit 1993 Österreich in Angst und Schrecken versetzt. Dies dürfte ihr nun auch mir ihrer mutmaßlich fünften Briefbombenwelle gelingen. Gestern jedenfalls zerriß es einen Briefkasten in der Grazer Innenstadt.
Daß die Adressaten der Bomben nur vordergründig die Opfer, in Wahrheit aber die politischen Institutionen der Zweiten Republik sind, könnte deutlicher nicht sein: Wie schon vor den Nationalratswahlen im Oktober des vergangenen Jahres wählten die Bombenleger auch diesmal einen bedeutenden Urnengang für ihre Gewaltkampagne. Das grassierende Gefühl der Instabilität, die Endzeitstimmung, die auf das kollektive Gemüt der Österreicher drückt, sollte wohl bestärkt werden. Das wird wohl, wenn auch nur in Maßen, gelingen.
Denn am Sonntag wird gewählt zwischen Wien und Vorarlberg. Was auf dem Spiel steht, ist diesmal mehr als bloß die arithmetische Zusammensetzung des Parlaments. Bleibt die Sozialdemokratie stärkste Kraft? Setzt der Rechtspopulist Haider schon diesmal zum großen Sprung an, wird er der Kanzlermacher? Geht die christlich- konservative „Volkspartei“ unter Herausforderer Wolfgang Schüssel gemeinsam mit Haiders rechtsextremen „Freiheitlichen“ das Wagnis einer Wendepolitik ein, die zwar weiß, was sie nicht mehr will, aber kaum schlüssige Antworten kennt auf die Frage, wohin die Reise gehen soll?
Die ohnehin grassierende Nervosität wird jetzt wohl einen weiteren Kick erhalten. Doch werden die bajuwarischen Bombardeure darüber hinaus irgendeinen Einfluß nehmen auf die Entscheidung, die am Sonntag ansteht? Das ist kaum wahrscheinlich. Daß es rechts neben Jörg Haider noch eine Kraft gibt, die die xenophobe Politik ins wortwörtlich Explosive verlängert, hat dem F-Führer in der Vergangenheit weder geschadet noch genützt. Am ehesten könnte die Sozialdemokratie von einem Stabilitätsreflex der Wähler profitieren, doch das tut sie ohnehin, wie jüngste Umfragen zeigen.
Cui bono, wem nützt also der gestrige Anschlag? Im Grunde wohl niemandem, und das ist doch eigentlich eine recht befriedigende Tatsache. Schade um den Briefkasten. Robert Misik
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