: Juppé kennt den Juppé-Plan nicht
■ Frankreichs Premier trifft die Gewerkschaftschefs und macht den Streikenden erste wichtige Zugeständnisse
Paris (taz) – Frankreichs Gewerkschaftschefs gaben sich gestern bei Alain Juppé die Klinke in die Hand. Am 18. Tag des Streiks, der das Land auch gestern weitgehend lahmlegte, war der Premierminister bereit, sie zu empfangen. Am Abend zuvor hatte er gleich mehrere Rückzieher von seiner bisherigen Politik gemacht, ohne jedoch das Kernstück, die Reform der Sozialversicherung, anzutasten. Sein erster Gesprächspartner zeigte sich damit nicht zufrieden: Am Ende des Treffens erklärte Louis Viannet, Chef der kommunistischen CGT, er warte weiterhin auf den entscheidenden Satz: „Ich ziehe den Sparplan für die Sécu zurück.“
Juppé hatte seine Rückzieher am Sonntag abend in einem Fernsehinterview vollzogen. Dabei gestand er keine eigenen Fehler ein, sondern sprach von „Mißverständnissen“. Im Widerspruch zu seinen Erklärungen vor Streikbeginn erklärte er, die speziellen Rentenregelungen im öffentlichen Dienst würden beibehalten, das Rentenalter für Eisenbahner und Metro- Fahrer werde „selbstverständlich“ bei 50 Jahren bleiben, und der Plan für die Sanierung der Eisenbahn solle noch weiter verhandelt werden. Den Widerspruch begründete er mit „internen Kommunikationsproblemen“ in dem Staatsunternehmen SNCF. Daneben verkündete Juppé, er sei nunmehr zu einem generellen „Sozialgipfel“ bereit, bei dem auch über Jugendarbeitslosigkeit und die Senkung der Arbeitszeit verhandelt werde. Und er strebe eine Verfassungreform an, die den Schutz des „öffentlichen Dienstes à la française“ in der Präambel festlege. Stur durchziehen will Juppé den Sparplan für die Sozialversicherung, die Sécu. Daher suspendierte er am Sonntag abend sogar die Parlamentsdebatte über die dazugehörige Vorlage. Mit Hilfe von Artikel 49/3 der Verfassung erklärte er den Text zur „Regierungssache“. Sozialisten und Kommunisten antworteten prompt mit einem Mißtrauensvotum – dem zweiten binnen einer Woche. Mit 5.000 Änderungsanträgen hatten sie die Abstimmung über die Reform blockieren wollen.
Die Gewerkschaften, die ihrerseits nach einem ehrenwerten Ende des Streiks suchen, reagierten auf die Juppé-Erklärung mit einem verstärkten Aufruf zu dem heutigen Aktionstag. Landesweit werden Demonstrationen stattfinden. Der Streik wird sich auf weitere Bereiche, darunter auch die Zeitungsdruckereien, ausdehnen. „Wir versuchen die Blockade zu beenden“, erklärte CGT-Chef Viannet gestern, „aber die Regierung muß bereit sein, über alle unsere Forderungen zu verhandeln.“ Auch FO-Chef Blondel hofft auf „starke Demonstrationen, damit ab Mittwoch eine globale Verhandlung möglich ist“.
In drei der vier Kohlebergwerke Lothringens wurde die Arbeit wiederaufgenommen, nachdem den Bergleuten ein zusätzlicher Urlaubstag angeboten worden war. Zuvor hatten die Arbeitgeber schon ihr Angebot einer Tariferhöhung verbessert. Vor dem Hintergrund des Streiks brachte das vergangene Wochenende unerwartete Freuden für die französische Linke. Bei Nachwahlen in acht Bezirken, die zuvor in konservativer Hand waren, schafften ihre Kandidaten den Einzug in die Nationalversammlung. Dorothea Hahn Seiten 8 und 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen